Die Nächte sind am schlimmsten.
Den meisten Eltern sind sie als „Geisterstunde“ bekannt: jene scheinbar nie endenden Minuten zwischen Abendessen und Schlafenszeit, während denen sich ihre Engelchen in Monster verwandeln und zu kleinen, verstörten Diktator:innen mutieren. Für mich beginnt die Anspannung aber bereits viel früher. Um etwa 16 Uhr fange ich an, das Abendessen zu planen und nichts ist so entmutigend, wie jede Mahlzeit allein zu sich nehmen zu müssen – glaub’ mir. Klar, mein Sohn, der jetzt sechs Jahre alt ist, setzt sich zu mir an den Tisch, weil ich es für wichtig halte, gemeinsam zu essen. Dies tut er aber bestenfalls halbherzig. Üblicherweise stopft er alles, was er will und für das Kinderherzen normalerweise so schlagen, in sich hinein und verzieht sich daraufhin mit einer Entschuldigung. Ich lasse es zu, weil ich es zu erbärmlich und egoistisch finde, ihn zu bitten, zu bleiben, um mir Gesellschaft zu leisten. Also haut er ab und am Ende werfe ich einen Blick auf meinen Teller und spüre, wie sich mein Appetit im Nu in Luft auflöst.
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Zur Erklärung: Ich bin seit fünf Jahren verwitwet. Mit nur 43 Jahren bin ich aber definitiv eine junge Witwe. Mit dieser Bezeichnung komme ich aber nicht so richtig klar und zucke zusammen, wann immer ich sie in Bezug auf mich selbst anzuwenden versuche. Sie trifft aber tatsächlich auf mich zu. Verwitwet zu sein, hat Berühmtheiten wie Jackie Kennedy zum Beispiel aber nicht davon abgehalten, eine Stilikone und der Inbegriff von Unabhängigkeit zu werden. Was hinter verschlossenen Türen geschieht, unterscheidet sich allerdings von dem, was im öffentlichen Auge passiert und ist eine härtere Nuss zu knacken.
Mein Ehemann war ein Feinschmecker, ein kulinarischer Draufgänger, der Gourmet-Blogs las, örtliche Restaurantführer geradezu verschlang und unsere Mahlzeiten, ob zu Hause oder auswärts, minutiös plante. Er himmelte Lidia Bastianich, eine berühmte Kochbuchautorin und Gastronomin, regelrecht an. Spaghetti mit Meeresfrüchten waren seine Schwäche – kalorientechnisch gesehen. Wann immer er seine Lieblingsspeise, Penne alla Wodka, zubereitete, braute er Zutaten liebevoll zusammen, die er in ganz bestimmten, von ihm ausgewählten Läden besorgte. Die Pasta? Natürlich von einem Vertreiber erstklassiger italienischer Konsumgüter. Und der Käse? Aus einem winzig kleinen Geschäft, das die obskursten und köstlichsten italienischen Kreationen verkaufte. Die Soße? Vergiss alles, was aus Einmachgläsern kommt. Beim Kochen machte er stets Gebrauch von jedem Topf und jeder Pfanne, die er in unserer Küche finden konnte. Nachdem unser Kind eingeschlafen war, saßen wir für gewöhnlich zusammen, tranken Brunello, unseren Lieblingswein, und aßen Mahlzeiten, die immer ebenso Instagram-würdig wie auch lecker waren.
Dann aber ging Justin von uns und ließ mich hier zurück.
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Als ich im achten Monat schwanger war und unmittelbar nach unserem letzten wirklich schmackhaften und schicken Mahl zusammen, wurde bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert. Während wir an Touristenmengen im Theaterviertel in New York vorbeischlenderten, aßen wir in meinem Lieblingslokal, einem österreichischen Restaurant, das es leider nicht mehr gibt, zu Mittag. Ihm war schwindelig und er klagte, das läge an seinem zu niedrigen Blutzucker. Aus diesem Grund aßen wir Spätzle und Schnitzel. Das half aber nicht, da er sich immer noch hundeelend fühlte und zitterte. Am nächsten Tag ging er zum Arzt und – bumm, eine von der Ärztin angeordnete MRT zeigte ein enormes Geschwulst in seinem Gehirn. Auf Fotos von diesem Mittagessen sehen wir beide so unschuldig, glücklich und entspannt aus.
Ich erinnere mich sogar daran, dass ich Justin als „Diva“ bezeichnete und ihm vorschlug, das ganze Theater mit dem „Zittern vor Hunger“ sein zu lassen und mich – ausnahmsweise einmal – an die erste Stelle zu setzen. Immerhin war ich doch zu diesem Zeitpunkt eine tickende Schwangerschaftsbombe. Während sich in mir aber neues Leben entwickelte, wuchs der tödliche Tumor, der Justin in 15 Monaten das Leben kosten würde, immer weiter und weiter. Im Nachhinein gesehen war seine Krankheit wie ein Wettstreit mit Gegner:innen, gegen die man einfach unter keinen Umständen gewinnen kann.
Bis zu seinem Tod spielte Essen in Justins Leben eine zentrale Rolle, auch wenn er es am Ende kaum noch kauen oder bei sich behalten konnte. Nichts machte ihn glücklicher als ein Cheeseburger, insbesondere einer von JG Melon, einer Einrichtung, die er, als es ihm gesundheitlich besser ging, so oft besuchte, dass der mürrische Oberkellner ihn sogar erkannte. Als er dann im April 2012 an einem Glioblastom im vierten Stadium starb, wurde auf einmal alles rund ums Thema Essen zur Qual. Die für mich schmerzhaftesten Momente, in denen ich mich wirklich allein fühlte, waren von nun an jene Augenblicke gekoppelt, in denen es Zeit war, zu essen.
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“
Jetzt bereite ich bloß noch eine Portion Essen zu. Ich schenke nur noch ein Glas Wein ein.
”
Abgesehen vom Essen und allem, was damit zusammenhängt, sehne ich mich danach, mit jemandem Brot zu brechen, der keine Freundin ist. Ich würde das so gerne mit einer Person tun, die mir nicht bloß aus Mitleid Gesellschaft leisten will. Wie gern würde ich über meinen Tag sprechen, über den Redakteur, der auf eine Schlagzeile bestand, die keinen Sinn ergab, über den Typen in der U-Bahn, der das ranzigste Sandwich aß, das mir je untergekommen ist, über die Art und Weise, wie meine Jeans platzte, und ich keine Ahnung davon hatte, bis ich irgendwann plötzlich eine geheimnisvolle, kühle Brise spürte. Das ist es, was Beziehungen festigt und Freund:innen einander näherbringt: das lebhafte Hin und Her zwischen Menschen, das einen langen Tag krönt. Was man isst, spielt dabei eine weniger wichtige Rolle als die Person, in deren Gesellschaft man speist. Und verdammt, ich vermisste Justin so sehr, dass ich mir oft gar nicht die Mühe machte, auch nur irgendetwas zu mir zu nehmen.
Hinzu kam, dass mein Sohn extrem wählerisch ist, wenn es ums Essen geht. Er ist und war so pingelig, dass man ihn nicht zwingen konnte, etwas zu essen, das er nicht auch tatsächlich wollte. Appetit hatte er zudem auch nicht viel. Dabei war es unwichtig, worum es sich handelte. Seine Ernährung bestand jahrelang einfach nur aus Pasta (auch nur ein Hauch von Basilikum rief Ekel und Empörung hervor), Proteinriegeln, Äpfeln und vielleicht – wenn ich Glück hatte – einem Burger. Ich erinnere mich auch an eine kurzlebige, aber stark ausgeprägte Phase, in der er viel Joghurt aß. Er bestand auf einen ganz bestimmten Geschmack und eine bestimmte Marke aus Island. Dieses Produkt wurde zu diesem Zeitpunkt nur in einem einzigen, schicken Feinkostladen in meiner alten Nachbarschaft verkauft. Als mein Mann im Hospiz war, rief mich meine Tante, die damals auf Alex aufpasste, verzweifelt an und fragte mich, ob ich einen Laden finden könnte – egal welchen –, wo das Zeug erhältlich war. Das Kind würde sonst scheinbar verhungern. Weil ich anderweitig beschäftigt war und ganz andere Sorgen hatte, musste mein Sohn ohne diesen Joghurt auskommen. Gute Nachrichten: Er hat es überlebt.
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Nach Justins Tod veränderten sich unsere Gewohnheiten am familiären Essstisch: jede gemeinsame Mahlzeit war jetzt eine Tortur. „Probier’ doch bitte diese Pasta/Huhn/Ente/Brokkoli“, flehte ich meinen Sohn an, der mich im Gegenzug nur anstarrte.
Also gab ich auf. Er aß das, zu dem ich ihn bringen konnte. Dann ging er spielen, während ich am Tisch zusammensackte und versuchte, die Reste zu genießen, die ich für mich zusammengewürfelt hatte. Anstelle von lebhaften Gesprächen starrte ich nun beim Abendessen aber nur noch die Wände ausdruckslos an und fühlte mich leer.
Klar, zum Teil war dieses Verhalten sicherlich ein Anzeichen von Depression, die ich mit Hilfe von Medikamenten und Bewegung zu bewältigen versuchte. Schließlich gilt der Tod eines Ehepartners oder einer Ehepartnerin als das turbulenteste Ereignis, das einem im Laufe des Lebens widerfahren kann. Aber vieles davon hatte auch damit zu tun, dass ich mich erst noch an meine neuen Lebensumstände anpassen und lernen musste, mich an die scheinbar endlosen Gesprächsschleifen mit einem Kleinkind zu gewöhnen. Mein Sohn hatte nämlich – abgesehen von einigen Sätzen – kein Interesse daran, Zeit mit mir zu verbringen. Das ist ja auch total normal für sein Alter. Er war dabei seine eigene, klar von mir abgegrenzte Identität zu entwickeln und sich so von mir abzunabeln. Und das konnte ich ihm ja schließlich nicht verübeln.
Manchmal graute es mir vor unserer gemeinsamen Zeit, weil wir so viel davon hatten. Ich hasste mich für diese Gefühle. Wie es aber bei den meisten Dingen der Fall ist, wird die Lage nach einer Weile besser. Er ist jetzt älter und erzählt mir eifrig vom Bestehen seiner Schwimmprüfung und vom Spielzeug, das er sich mit seinem Freund Leo teilt. Sobald er mir aber von bestimmten Tagesabschnitten erzählt hat, war’s das auch schon. Ich zwinge aber ein aufblühendes, glückliches Kind doch nicht dazu, seiner Mutter Gesellschaft zu leisten, nur weil sie es leid ist, allein zu sein. Das ist in jeder Hinsicht falsch und ungerecht; also mache ich weiter. Ich bereite bloß eine Portion Essen zu. Ich schaue mir Fotos meines Mannes an und überlege, was hätte sein können und sollen und denke an das, was in den letzten fünf – ach so ruhmreichen– Jahren tatsächlich passiert ist.
Fairerweise muss ich zugeben, dass ich oft persönlich schuld an versäumten Gelegenheiten bin. Ich bin diejenige, die sich gegen Verabredungen sträubt, die davor zurückschreckt, „wieder ins kalte Dating-Wasser zu springen“, wozu eine Freundin mich immer wieder ermutigt. Und je länger ich mich in meiner Wohnung verstecke, desto mehr schotte ich mich von allem ab, was draußen so passiert. Wie wird das erst sein, wenn Alex älter ist und anfangen wird, das Hause zu verlassen, wenn es ins Ferienlager, in die Schule und so weiter geht? Ich versuche, der Ursache meiner Angst und meines Widerstandes, neue Bekanntschaften zu schließen, auf den Grund zu gehen und daraus schlau zu werden. Justin hätte sicher nicht gewollt, dass ich den Rest meines Lebens einsam bin und allein essen muss. Und je älter ich werde, desto weniger Optionen stehen mir zur Auswahl; Daten ist kein Kinderspiel; das hat sich aber wahrscheinlich bereits herumgesprochen.
Vielleicht ist aber die Zeit für neue Gerichte mit neuen Männern gekommen – aber nur vielleicht.
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