Menschen lieben Essen, sehr sogar. Und noch mehr, wenn es nichts kostet.
Jeder kennt sie: die Gier nach dem Blechkuchen, den der Kollege in die Büroküche stellt, oder die Brezeln, die die Kollegin zur Morgenkonferenz mitbringt. Man hat ja eigentlich gar keinen Hunger, aber… nun ja, aber da liegt nun mal diese Brezel und jetzt verspürt man eben den Drang zuzugreifen. Aber warum nur? Wir erlegen uns doch sonst so viele Regeln auf, wenn es um Ernährung geht, disziplinieren uns tagtäglich mit neuen Limitierungen und Herausforderungen – wie kommt es, dass unser Impuls, „sich einfach mal ordentlich zu gönnen“, in solchen Momenten Überhand gewinnt?
Die nächste Stufe erreichen diejenigen, die im Supermarkt oder auf dem Wochenmarkt alle Proben abräumen, die es so zu holen gibt: Käsewürfel, Brotstücke, die eigentlich zur Olivenölverkostung gedacht sind, aufgespießte Obstspalten, die zu einem Quasi-Obstsalat gehäuft werden. Die Spitze des Eisbergs? Die oh-warte-was-ist-das-ach-nein-doch-nicht-Mentalität – geht so: Kuchenstück anlangen, an die Zuckerfrei-Diät denken, Kuchenstück wieder zurücklegen.
Die Wahrheit ist, dass ich auch nach 25 Jahren in der Gastronomie und Lebensmittelbranche noch immer keinen Lösungsansatz für die Frage gefunden habe, warum rational funktionierende, erwachsene Menschen, die meist sogar die finanziellen Mittel und die mentalen Kapazitäten besitzen, sich das zu holen, was sie wollen und neues auszuprobieren, wenn sie denn den Wunsch verspüren, sich auf Gratis-Essen stürzen als wären sie dem Hungertod nahe. Ich wandte mich also an Psychologen und Anthropologen, möglicherweise liegt der Ursprung dieses Phänomens ja in der menschlichen Evolution?
„Ich wäre sehr vorsichtig mit der Annahme, dass es eine evolutionäre Erklärung für dieses Verhalten gibt“, so Dr. Richard Wilk, Professor der Anthropologie an der University of Indiana. „Über zwei bis drei Millionen Jahre hinweg war Essen weitestgehend umsonst. Die Kosten bestanden darin, wieviel Zeit, Mühe und Gefahr man zur Anschaffung der Nahrungsmittel in Kauf nehmen musste.“
Dr. Amy McLennan, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Oxford Universität, erklärt weiterhin, dass frei zur Verfügung Gestelltes in Kulturen, in denen Essen anderen kommerziell erwerblichen Konsumgütern gleichgesetzt wird, neuen Wert erlangt. „Wenn die Betonung darauf gelegt wird, dass etwas umsonst ist, dann kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass sich die Menschen darauf stürzen werden, ganz egal, ob es sich dabei um Essen handelt oder etwas anderes.“
Auch die Entwicklung der Wirtschaft spielt eine Rolle. „Wenn eine Ware, der durch das Wirtschaftssystem normalerweise ein monetärer Wert zugeschrieben ist, plötzlich umsonst angeboten wird, macht sie das umso wertvoller und erstrebenswerter. Wir haben Essen und Appetit schon vor langer Zeit von der Konnotation des eigentlichen Hungers losgelöst. Es spielen mittlerweile sehr viel mehr Faktoren Rollen dabei.“ Jeder, der schon einmal in einem Restaurant gearbeitet hat, kennt die Versuchung, etwas zu probieren, das man sich selbst nicht leisten könnte.
Vielleicht ist die Erklärung aber auch einfach sehr viel simpler und naheliegender als gedacht. Vielleicht mögen wir es, im tiefsten Innern, ganz einfach etwas zu bekommen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Möglicherweise gefällt dem Menschen das Gefühl, mit etwas davongekommen zu sein, das eigentlich nicht den Regeln entspricht.
Dr. Merry White, Professorin für Anthropologie an der Boston University, erklärt, „Essen ist von Anfang an, wenn wir durch die Brust der Mutter genährt werden, umsonst. […] Frei zugängliches Essen spricht uns also auch auf einer sehr intuitiven Ebene an. Nun war Essen im Flugzeug früher auch im Preis enthalten, so hat man es im Flugzeug umsonst bekommen. Das hat sich mittlerweile radikal geändert, und wenn man jetzt eine Tüte Salzbrezeln gereicht bekommt, ist die Freude natürlich unverhältnismäßig groß!“
Diese Freude, und die neuartige Dankbarkeit, die damit einhergeht, ist einer der wichtigsten Faktoren, wenn es darum geht auf dem Wochenmarkt etwas zu probieren, bevor es gekauft wird. Nicht jedoch in den Gängen der Supermärkte, die Tische mit Proben aufstellen. Es fließt also auch der Mensch hinter der Ware mit ein, wir möchten sehen, wer uns das Essen reicht, ein Vermittler quasi, der im Idealfall die Geschichte und Entstehung des Produkts verkörpert.
Wie Dr. White weiterhin erzählt, „legen wir als Menschen auch Wert auf die Beziehung und die Verbindungen, die hinter einem Produkt stecken und die wir zu ebendiesem Produkt aufbauen. Soziokulturelle Faktoren spielen für Anthropologen natürlich immer eine ausschlaggebende Rolle. In Japan gibt es beispielsweise depachika, große Markthallen für Lebensmittel. Dort findet man sämtliche Stände zum Probieren, aber auch eine spezifische Etikette: Man geht nicht nur hin, guckt, probiert und geht. Es wird Engagement gefordert, man soll sich mit den Herstellern und den Verkäufern unterhalten, ihnen Fragen stellen. Gratis-Essen soll nicht anonym sein, es soll einen Mehrwert schaffen.“
Für den Wochenmarkt können wir uns also hinter die Ohren schreiben: Einfach mal mit dem Menschen, der uns das Stück Käse reicht oder die Apfelspalte abschneidet, sprechen und nachfragen. Und wenn es das nächste Mal Kuchen im Büro gibt und alle schon lechzend in ihren Startlöchern bereit stehen, dann gibt es eine plausible Erklärung für das befremdliche Verhalten der eigentlich gar nicht so hungrigen Kollegen: Es liegt in der Natur des Menschen.
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