„Hast du schon ‚Tote Mädchen lügen nicht’ gesehen?“ fragte mich neulich meine Freundin Laura, als wir im Café saßen. Ich atmete kurz durch, sah sie an und antwortete: „Ich gucke doch nicht so gern Filme und Serien, bei denen es um Selbstmord geht“. „Ach ja“, reagierte sie, „das habe ich ganz vergessen. Entschuldige.“
Es muss sich niemand bei mir entschuldigen, weil er vergessen hat, dass meine Freundin Ella sich das Leben genommen hat. Mittlerweile vergesse ich es manchmal selbst. Zum Beispiel, wenn ich diese hübsche braunhaarige Frau sehe, die bei mir um die Ecke wohnt. Es gibt nämlich eine Doppelgängerin von Ella, die hier in der Nähe wohnt. Immer, wenn ich sie treffe, möchte ich laut rufen – bis mir wieder einfällt, dass das gar nicht meine Freundin sein kann.
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In diesen Momenten fällt die Traurigkeit wieder auf mich herab wie ein schwerer schwarzer Vorhang. Dann möchte ich mit niemandem reden, weil ich bei jeder Kleinigkeit anfangen muss zu weinen. Diese Momente kommen immer wieder, ich weiß, dass sie nie aufhören werden. Aber die Abstände dazwischen werden etwas größer. Das beruhigt mich ein bisschen. Manchmal zumindest. Manchmal habe ich auch Angst, dass ich Ella vergessen könnte, dass ich irgendwann nicht mehr weiß, wie sie gelacht hat. Sie hat oft gelacht.
Meine Freundin war sehr besonders: Wenn sie auf eine Party kam, waren alle begeistert von ihrer Offenheit, ihrem Humor, ihrem Charme. Bevor sie krank wurde, war sie so voller Energie und Lebensfreude. Ich muss jedes Mal grinsen, wenn ich an ihren 25. Geburtstag denke. Sie veranstaltete ein Wodka-Wetttrinken und tanzte danach fünf Stunden am Stück. Oder an ein Ritual: Nach jedem Treffen schrieb eine von uns eine SMS, in der stand, wie schön es gewesen war, dass wir uns bald wiedersehen müssen. Sie hat mir oft gesagt, dass sie froh ist, dass ich ihre Freundin bin. Ich hätte es ihr viel öfter sagen müssen.
Ella hatte Depressionen. Schon einmal vor acht Jahren ging es ihr so schlecht, dass sie sich freiwillig in die Klink einweisen ließ. Dass sie traurig war, hatte ich gemerkt. Dass es so schlimm um sie stand, sah ich damals erst, als ich sie im Krankenhaus besuchte. Sie war hilflos und blass und dünn. Doch sie kämpfte gegen ihre Krankheit, wurde nach vier Wochen entlassen und führte danach ein Leben, das zufrieden und erfüllt wirkte. Natürlich hatte sie melancholische Phasen, aber alles bewegte sich in einem „normalen“ Rahmen.
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Doch dann wurde sie schwanger und verlor in der 20. Woche ihr Baby. Ich werde nie vergessen, wie sie mich aus dem Krankenhaus anrief und mir alles erzählte. Sie war so furchtbar verzweifelt. Wochenlang riss sie sich zusammen, fuhr in den Urlaub, versuchte glücklich zu sein – aber sie war danach nie mehr so wie früher. Sie wirkte jetzt immer irgendwie unendlich traurig. Die Depression war zurück.
Eines Tages rief sie mich an, als sie gerade aus der psychiatrischen Notaufnahme kam. Sie sagte, sie habe diese Angst nicht mehr ausgehalten. Ihre Stimme klang kraftlos, sie war erschöpft. Monatelang hatte ich verdrängt, dass meine Freundin ernsthaft krank war. Ihr war so viel Schreckliches passiert – auch schon vor der Fehlgeburt. Ihre Mutter schwer krank, ihr Bruder und Vater tot, aber sie hat sich von allen Rückschlägen immer wieder erholt. Sie war stark. Deswegen redete ich mir ein, dass alles wieder so wie früher werden würde.
Zwei Tage nach unserem allerletzten Treffen ging Ella freiwillig in eine Klinik. Sie schickte jetzt nur noch SMS. „Ich glaube, ich verliere den Anschluss“ schrieb sie oder „Es geht mir immer schlechter “. Als sie an einem Tag auf eine Nachricht von mir nicht antwortete, meldete sich stattdessen ihr Mann: Sie war verschwunden! Wir überlegten fieberhaft, wo sie sein könnte, hinterließen immer wieder Nachrichten auf ihrer Mailbox. Die folgende Nacht war furchtbar. Jede Stunde kamen schreckliche Neuigkeiten. Sie hatte ihre Tabletten mitgenommen, man fand ihre Tasche, aber von ihr fehlte jede Spur. Am frühen Morgen suchten schließlich unzählige Polizisten mit Hunden nach ihr. Mir war klar, dass es unwahrscheinlich war, aber ich hoffte inständig, dass es klingeln und sie vor der Tür stehen würde. Eigentlich hoffe ich das bis heute.
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Als man Ella am nächsten Morgen fand, war sie schon mehrere Stunden tot. Sie hatte ihren ganzen Vorrat an Schlaftabletten genommen und sich in einem See ertränkt. Als ich davon erfuhr, reagierte ich merkwürdig, hockte wie gelähmt auf meinem Stuhl mit dem Telefon in der Hand und fühlte nichts. Das alles war zu schlimm, als dass ich es hätte begreifen können.
Die ersten Tage, nachdem sie starb, stand ich unter Schock. Ich wollte nicht weinen, nicht verstehen, wollte nur, dass das alles nicht geschehen war. Ich rechnete damit, dass ich aufwachte und alles nur geträumt hatte. Dabei konnte ich gar nicht schlafen. Wenn ich doch einnickte, wurde ich schweißgebadet wach und bekam keine Luft. Wochenlang ging das so, aber irgendwann schlief ich doch wieder. Jetzt war ich nur noch tagsüber traurig, wenn ich an sie dachte.
Ella lebt seit drei Jahren nicht mehr. Bis heute denke ich jeden Tag an sie. Natürlich frage ich mich, ob ich ihr hätte helfen können. Aber ich weiß, dass diese Gedanken nichts nützen. Sie hatte alles so geplant, dass sie niemand finden konnte. Sie war schlau und willensstark. Auch wenn es mir schlechter ohne sie geht, geht es ihr jetzt besser als in den letzten Wochen ihres Lebens. Das zumindest sage ich mir, wenn ich das Gedankenkarussell gar nicht mehr aushalte. Unsere Freundschaft war besonders: Innig, ehrlich, loyal. Bis heute versuche ich, loyal zu sein. Sie hat eine Entscheidung getroffen, ich muss das akzeptieren.
Ich möchte aber nicht immer nur traurig sein, wenn ich mich an sie erinnere. Sie würde das nicht wollen, das weiß ich. Ich möchte an die lustige, lebenshungrige Ella denken. Natürlich ist das nicht leicht, aber ich versuche es. Die Gedanken an sie sollen positiv sein, das hat sie verdient.
Deswegen kann ich auch nicht „Tote Mädchen lügen nicht“ gucken. Weil ich mich nicht daran erinnern möchte, wie Ella gestorben ist. Ich möchte mich daran erinnern, wie sie war, als sie gelebt hat.
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