Sie ist Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin, Muslimin, Staatsfeindin – Seyran Ateş ist vieles, vor allem aber ist sie mutig, denn sie lebt ihren Traum vom liberalen Islam. Im Juni eröffnete sie die „Ibn Rushd-Goethe-Moschee“ in Berlin. In einem Raum in der evangelischen Johanniskirche im Stadtteil Moabit heißt sie Sunniten, Schiiten, Aleviten, Sufis, Menschen aller islamischen Glaubensrichtungen und ebenso ausdrücklich homosexuelle Muslime willkommen. Frauen müssen hier kein Kopftuch tragen, dürfen zusammen mit den Männern beten und die Funktion der Vorbeterinnen einnehmen. Was nach einer offenen und modernen Weiterentwicklung des Islam klingt, ist für viele ein unüberwindbares Ärgernis. Traditionelle Hardliner sind außer sich, wie eine Frau so etwas wagen und die Auslegung des Korans so verschandeln kann. Sogar der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan soll auf die Schließung ihres heiligen Raums gedrängt haben und eine Forderung an die deutsche Bundesregierung ausgesprochen haben. „Sie haben Angst vor dem Verlust von Macht. Das Patriarchat lebt davon, dass Frauen eine untergeordnete Rolle akzeptieren. Wenn Frauen das nicht mehr akzeptieren, dann verlieren Männer ihre Macht“, erklärt Ateş gegenüber Refinery29.
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Auch wenn die 54-Jährige seit der Eröffnung der Moschee über Hundert Morddrohungen bekommen hat und 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz steht, muss sie den Kampf für die Frauen führen. Und sie kennt es nicht anders, die Angst ist ihr Begleiter seit 1984. Da wurde sie angeschossen, sie war 21 Jahre alt und überlebte nur knapp. Seither nimmt sie Kritik und Todeswünsche in Kauf, weil sie ihre Meinung öffentlich kundtut. In ihrem neuen Buch mit dem Titel „Selam, Frau Imamin: Wie ich in Berlin eine liberale Moschee gründete“ erzählt sie ganz ehrlich von den Hürden der Konservativen und gleichzeitig von ihrer Hoffnung für mehr Frauenfreundlichkeit im Islam, für die weibliche Revolution der Religion.
„Weltweit sind Frauen bemüht die Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen zu bekämpfen, auf allen Ebenen. Dazu gehört auch der Einsatz von Frauen in den Religionen, in allen Religionen. Auch Musliminnen wünschen sich immer mehr eine geschlechtergerechte Lesart des Korans und der Hadithe. Aus diesem Grunde gibt es auch immer mehr Frauen, die man als Imaminnen bezeichnen kann und die als Imaminnen tätig sind.“
In Kopenhagen wurde vor einem Jahr die erste Frauenmoschee Europas eröffnet. Weibliche Geistliche leiten hier das Freitagsgebet. Und es soll sogar eine Akademie entstehen, an der Imaminnen ausgebildet werden.
„Wer Imaminnen kritisiert, tut das aus Ignoranz. Der islamischen Tradition zufolge ist es Frauen erlaubt, als Imame zu predigen. Unser Prophet Mohammed hatte einst eine Moschee an sein Haus in Medina bauen lassen, es war die erste Moschee in der islamischen Welt. Dort hatte er auch Frauen erlaubt, andere Frauen durchs Gebet zu führen“, sagt Sherin Khankan, Dänemarks erste Imamin, gegenüber Zeit Online: „In den Hadithen, den Erzählungen über die Aussprüche und Handlungen des Propheten, steht ausdrücklich geschrieben, dass der Prophet es Frauen erlaubt hat, in seiner Moschee die Gebete für Frauen zu leiten, auch seinen eigenen Frauen. Wir zetteln also keine Revolution an oder tun etwas Ungewöhnliches. Vielmehr folgen wir Imaminnen dem Propheten Mohammed.“
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Auch die in der Türkei geborene Ateş hat sich zur Imamin ausbilden lassen, „weil ich damit die Arbeit in der Moschee und für die Gemeinde besser machen kann. Ich habe in den letzten Jahren, seit ich die Idee der Moschee entwickle, festgestellt, dass ich mein Wissen über den Islam noch weiter vertiefen möchte. Auch, um anderen Wissen vermitteln zu können.“
Ihrer Meinung nach reiche es aber nicht aus, durch eine Vielzahl an Imaminnen patriarchale Strukturen im Islam zu brechen. „Diese Imaminnen müssen natürlich auch für eine zeitgemäße und geschlechtergerechte Lesart des Koran und der Hadithen einstehen.“
Allein in Berlin gibt es um die 80 Moscheen-Gemeinden, Medienberichten zufolge soll es nur 13 weiblichen Vorbeterinnen in ganz Deutschland geben, bestätigte Zahlen für Deutschland oder gar Europa gibt es allerdings nicht. „Auch ich kann das nicht bestätigen. Ich denke aber, dass es sehr viel mehr Frauen gibt, die sich als Imamin betätigen bzw. betätigen könnten“, so Ateş abschließend. Weiblicher Wandel ist also im Gebetsraum angekommen.
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