Wenn du verstärkt über dein Hunger- und Durstgefühl gefragt wirst und Leute um dich herum beschämt ihre kühlen Getränke vor dir verstecken, dann weißt du: Es ist Ramadan!
In meinem nicht-fastenden Freundeskreis ist die Verwunderung um den Monat Ramadan ein alljährliches Ritual. Was ihnen gar nicht in den Kopf geht: „Wie kann man im Sommer fasten? Die Sonne geht doch voll spät unter!“ Richtig erkannt, Sherlock. Der Ramadan geht dieses Jahr vom Abend des 15. Mai bis zum Abend des 14. Juni – die Tage sind also tatsächlich etwas länger.
Das ist der Grund, warum wir tagsüber entsprechend lange ohne Essen, Trinken, Sex und böse Flüche auskommen, aber auch Social-Media-Pausen einlegen, weil Enthaltsamkeit nicht immer nur mit Sex verbunden ist.
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Das kleine Ramadan-Einmaleins für Anfänger & Neugierige
Der Ramadan ist der neunte Monat des islamischen Mondkalenders und gilt als der heiligste Monat für Muslime. Im Sonnenkalender verschiebt er sich jedes Jahr um etwa elf Tage nach vorn, deswegen fällt der Ramadan seit einigen Jahren in die Sommersaison. Weltweit fasten während des Ramadan Muslime 29 beziehungsweise 30 Tage. Das heißt, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wird weder gegessen noch getrunken und auch nicht geflucht. Rauchen oder Geschlechtsverkehr fallen ebenso in diese Kategorie. Ziel ist es unter anderem, den inneren Schweinehund zu bekämpfen, sein Ego wieder in den Griff zu bekommen und Gott näherzukommen.
Wenn man psychisch und physisch gesund ist, kann gefastet werden. Ausgenommen vom Fasten sind Kinder, Alte und Gebrechliche, Schwangere, Stillende und Kranke, und Personen, die sich in ihrer Periode befinden sowie Menschen, die während ihrer Arbeit körperlich schweren Tätigkeiten nachgehen.
Suhur ist die Zeitspanne vor dem Sonnenaufgang, bei der noch gegessen und getrunken werden kann. Als Iftar bezeichnet man den Zeitpunkt des Sonnenuntergangs und des Fastenbrechens, wenn wieder gegessen und getrunken werden kann. Hier kommen Fastende oft in Freundes- und Familienkreisen zusammen und begehen das Fastenbrechen gemeinsam. Beendet wird der Fastenmonat Ramadan feierlich mit dem sogenannten Zuckerfest, ein dreitägiges Fest, das auch Bayram oder Eid genannt wird.
Der Ramadan als Detoxkur & „No Negativity“-Monat
Wenn man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fastet, sollte man all seine körperlichen Gelüste im Zaum halten. Der Fokus wird auf die Spiritualität und die Verbesserung des eigenen Charakters gelenkt. Oder in hipperen Worten: eine Detoxkur mit integriertem „No Negativity“-Feature. Für Menschen wie mich eine Herausforderung, denn ich gehöre leider zu der Sorte, die immer und überall etwas Schnippisches von sich geben muss oder zu Hulk mutiert, wenn Menschen sich nicht wie Menschen benehmen können. Ich weiß zwar, dass mich Gott in solchen Momenten auf die Probe stellt, aber ich versage jedes Mal. Deswegen ist der Ramadan eine gute Gelegenheit, mein Problem am Kopftuch zu packen – no pun intended.
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29 oder 30 Tage lang dürfen Musliminnen und Muslime sich anhören, wie unmöglich doch das Fasten in der Hitze ist, warum wir unnötig leiden und warum wir nicht wenigstens Wasser trinken können. Bei der angeblich so gefährlich fortschreitenden Islamisierung des Abendlandes könnte man meinen, dass die Mehrheitsgesellschaft endlich gelernt hat, was der Ramadan ist und was ihn ausmacht. Falsch gedacht! Deshalb nun hier mein Guide für alle da draußen, die mehr wissen möchten, weil die Islamisierung des Abendlandes ihren Job eben doch nicht erfüllt hat.
„Stört's dich wirklich nicht?“
Kaum geht es im Büro oder in der Uni darum Essen zu bestellen oder auszupacken, halten plötzlich alle inne und sind wie erstarrt: „Wird sie uns jetzt umbringen? Wird sie weinen? Wird sie uns das Essen aus der Hand reißen, weil wir ihren Hunger jetzt erst recht triggern?“ Solche Fragen scheinen meinen Freund*innen und Kolleg*innen förmlich aus dem Gesicht zu springen. Nein, Becky, keine Angst, auch wenn ich gerade ultra-hangry bin, rühre ich deinen Chiapudding mit Amaranth nicht an. Scherz beiseite: Ich schätze die empathische Motivation dahinter, aber einmal fragen reicht. Niemand muss mich 20 Mal hintereinander fragen, „ob es denn auch wirklich gerade okay ist“. Bussi, danke.
„Trinken auch nicht? Nicht mal Wasser?!“
Nein, nicht mal Wasser. Denn wäre Wasser erlaubt, dann kann ich euch jetzt schon sagen, dass viele muslimische Spezialisten ihr Wasser plötzlich mit Proteinen oder Früchten oder sonst 'was tunen würden. Oder sich nur mehr von Eis ernähren. Was ich wahrscheinlich auch machen würde. Vor dem Sonnenaufgang versuche ich mich natürlich möglichst so zu ernähren, dass ich tagsüber nicht wie ein Zombie durch die Gegend spaziere. Obst- und Gemüsesorten mit einem hohen Wasseranteil kommen da sehr gelegen. Und so früh am Morgen habe ich sowieso eher wenig Bock auf Kauen, deswegen werfe ich alles in den Mixer und schlürfe verschlafen an meinem so gesunden Smoothie, dass selbst hippe Smoothie-Baristas vor Neid grün anlaufen würden.
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„Hast du schon Hunger?“
Ich bedanke mich ganz herzlich für diese Erinnerung. Denn von allen Dingen, die wir besprechen könnten, wollen meine Freund*innen vorrangig wissen, auf welchem Hunger-Level ich mich befinde. Friends, ich hasse und liebe euch zugleich. Die ersten Tage im Ramadan sind natürlich die härtesten, weil man sich erst daran gewöhnen muss, plötzlich nicht mehr Döner oder Sommerrollen in sich hineinzustopfen, wenn man mal Hunger hat. Nach dieser Anfangsphase gewöhnen sich Hirn und Magen schon langsam an diese Umstellung, das Hungergefühl empfinde ich dann nicht mehr so krass wie anfangs. Es hilft auch, zum Frühstück beim Suhur ballaststoffeiche Nahrung zu sich zu nehmen, die einen länger satt halten. Müsli oder Overnight Oats mit getrockneten Früchten wie Datteln und Rosinen und Nüssen sind da richtig toll. Mir fällt grad auf: Man ernährt sich plötzlich wirklich wie diese Instagram-Blogger. Richtig schlimm wird das Hungergefühl wieder, wenn die PMS-Phase anfängt. Während der Periode sind wir Frauen natürlich vom Fasten befreit. Trotzdem ist PMS kein Zuckerschlecken. Man ist konstant hangry – hungry und angry.
„Es ist richtig heiß, bist du nicht durstig?“
Nein, gar nicht, warum sollte ich bei 30 Grad plus auch Durst haben? Das Eis wird bei dieser Frage immer dünner. Ist es nicht selbstverständlich, dass man bei etwas höheren Temperaturen sogar die Pfütze auf der Straße austrinken könnte? Während des Fastens meldet sich der Hunger irgendwann nur noch sporadisch, während das Durstgefühl einfach bleibt, wenn es einmal hochkommt. Und wenn der Blutzuckerspiegel sowieso schon niedrig ist und du diese Frage gestellt bekommst, wenn du dich sowieso schon am Tiefpunkt befindest, gibt es nur zwei Möglichkeiten zu reagieren: Resigniert und komplett fertig mit der Welt zu nicken – oder zum Hulk werden. Letzteres versuche ich zu vermeiden, ansonsten hätte ich den Sinn des Fastens verfehlt.
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„Gehen wir endlich essen?“
Auf diese Frage reagiere ich häufig mit hysterischem Lachen oder mit einem unglaublich gut trainierten Resting Bitch Face. Meine Mitmenschen entschuldigen sich daraufhin gefühlte 300 Mal. Genauso wie ich mich auf das Fasten einstellen muss, muss das mein Freundeskreis in der Anfangsphase eben auch. Danach leben wir in perfekter Symbiose, das soziale Leben passt sich den Umständen an: Gemeinsame Essen werden auf den Abend verlegt, wenn ich mein Fasten auch brechen kann. Oder alles wird in die Woche verschoben, in der ich meine Tage bekomme und mich meinem Heißhunger hingeben kann, weil mein Hirn in einem Hormonsüppchen schwimmt.
Count your blessings!
Alles in allem ist der Ramadan neben Hunger und Durst eine wirklich besinnliche Zeit und ein zeitlich begrenzter Ausstieg aus der Konsumlogik unseres Alltags. Man lebt, isst und denkt bewusster. Dass mein Lebensstil in dem Monat auch mein nicht-muslimisches Umfeld beeinflusst, überrascht mich immer wieder. Mir fällt dann einfach auf, dass meine Freunde viel bewusster mit dem Essen oder Wasser umgehen und nicht mehr so verschwenderisch.
Anstatt sich also den Kopf darüber zu zerbrechen, was man essen will oder dass man jetzt essen muss, investiert man die gewonnene Zeit in andere Dinge, wie zum Beispiel sich selbst. Man lernt, mehr in sich zu kehren, jede Kleinigkeit wertzuschätzen und generell einfach das Leben bewusster wahrzunehmen. Egal, ob das jetzt ein Lächeln oder eben nur ein Reiskorn ist. Großzügigkeit, Dankbarkeit und Wertschätzung sind in dieser Zeit wichtige Begriffe für die Fastenden. Denn Ramadan bedeutet nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele von Ballast zu befreien. In diesem Sinne: einen erfolgreichen No Negativity Monat, frohes Fasten und einen schönen Sommer euch allen!
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