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Ich war Tarot-Leserin für eine Wahrsagen-Hotline & habe viel gelernt

Foto: Megan Madden.
Was Religion angeht, könnte man sagen, dass ich in einer „gemischten“ Familie aufgewachsen bin. Einerseits war ich so katholisch, dass ich mit 17 Jahren von unserem Priester dazu ausgewählt wurde, den damaligen Papst zu treffen, als der zu Besuch in unserer Stadt war. Andererseits wurden bei uns auch regelmäßig irgendwelche Events oder Ausflüge gecancelt, weil meine Mutter „einen Traum hatte“. Ihre spirituelle Seite war sogar in unserer Wohnung sichtbar: Wenn ich im Bad ein frisches Handtuch aus dem Schrank nehmen wollte, musste ich dazu erstmal diverse Schalen voller Kristalle zur Seite räumen, und unser Bücherregal enthielt wohl genauso viele Romane wie Bücher über Geburtshoroskope und dergleichen.
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Ich selbst konnte damit nicht viel anfangen. Mit einer Ausnahme: Tarot. Aber egal, wie sehr ich sie anflehte – meine Mutter weigerte sich, mir die Karten zu legen. Sie begründete das damit, dass ich nicht mit Dingen spielen sollte, für die ich noch nicht bereit war. Diese warnenden Worte hatten so eine starke Wirkung auf mich, dass ich mir erst in meinem zweiten Studienjahr mein erstes Tarotdeck kaufte. Ich weiß noch, dass ich damals las, dass das allererste Deck eigentlich ein Geschenk sein sollte; es war mir aber zu peinlich, jemanden aus meinem Freundeskreis darum zu bitten, mir eins zum Geburtstag zu schenken. Wer sagt eigentlich, dass etwas für sich selbst Gekauftes nicht auch ein Geschenk sein kann?, dachte ich mir damals.
Als ich die Karten dann hatte, fing ich damit tatsächlich gar nicht viel an. Ich nahm sie lediglich aus ihrem Samtbeutel und schaute mir die Abbildungen genau an. Es dauerte mehrere Jahre, bis ich mir selbst die Karten legte, weil mich die ganzen Informationen total überforderten. Wie sollte ich mir selbst all die verschiedenen Bedeutungen der einzelnen Karten merken können?
Erst als ich mich von der Vorstellung löste, jede Bedeutung und jedes Detail auswendig kennen zu müssen, gewann ich an Selbstbewusstsein dazu. Tarot hat seine Ursprünge irgendwo im Italien des 15. Jahrhunderts; im Laufe der Zeit haben wir wohl mehr Wissen rund um die Karten verloren, als ich je kennen werde. Aktuell benutze ich nur ein einziges Deck, um bezahlte Lesungen durchzuführen, weil ich mich mit einem Deck gern richtig gut auskenne, bevor ich es an anderen Leuten als mir selbst ausprobiere. Das hat mir außerdem dabei geholfen, meine Sammlerinnen-Instinkte zu unterdrücken (viel zu oft dachte ich: Ooohh, dieses Deck ist laminiert! Ooohh, in diesem Deck kommen meine liebsten Göttinnen vor!), und heute kaufe ich nur das, was ich auch wirklich regelmäßig benutzen will. 
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Der Übergang dazwischen, Leuten die Karten zu legen, die ich gut kannte, bis dahin, die völlig Fremden dabei nicht mal sehen zu können, war schwierig für mich.

Ich habe außerdem das Glück, einem eher lockeren „Zirkel“ mit meinen hexerisch veranlagten Freund:innen anzugehören. Wenn wir alle am selben Ort sind, essen und trinken wir zusammen, und nach ein paar Gläsern Wein kommen dann diverse Decks aus allen möglichen Jacken- und Handtaschen hervor. Genau diese fröhlichen Treffen gaben mir den Mut, professionelle Tarotleserin zu werden. Meine Kriterien dafür, für eine Wahrsagen-Hotline zu arbeiten, lauteten:
1. Zahlt man mir dort genug?
2. Interessiert man sich dort wirklich für das Okkulte und das Metaphysische?
Ich fand eine Hotline, die beide Punkte abzuhaken schien, brachte den Bewerbungsprozess hinter mich und saß schließlich neben dem roten Telefon mit Drehscheibe, das ich mir extra dafür gekauft hatte. Meine ersten Anrufe waren… nicht gut, um es mal harmlos zu formulieren. Der Übergang dazwischen, Leuten die Karten zu legen, die ich gut kannte, bis dahin, die völlig Fremden dabei nicht mal sehen zu können, war schwierig für mich.
Dabei half es nicht gerade, dass ich immer schon Probleme mit Konzentration und Meditation gehabt hatte. „Meinen Kopf zu leeren“ kam mir unmöglich vor. Die Hotline ließ mir aber keine andere Wahl. Ich hatte nur eine Stimme am Telefon oder Worte auf einem Bildschirm. Das zwang mich dazu, alle Ablenkungen auszublenden und mich auf das zu fokussieren, was hier genau vor mir stattfand.
Für eine Hotline Karten zu legen, verstärkte außerdem meinen Instinkt, mich zuallererst auf mein Mitgefühl zu verlassen. Muss diese Person das jetzt hören? Wie sage ich es ihm oder ihr auf eine Art, auf die es sich leichter verdauen lässt? Die besten Menschen in meinem Leben schaffen es, selbst die schwierigsten Momente der Ehrlichkeit als eine Gabe zu nutzen – eine Fähigkeit, die ich gerade in emotional intensiven Lesungen sehr nötig finde.
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Diese Verpflichtung gegenüber der Wahrheit nehme ich mir selbst auch sehr zu Herzen. Wir alle kennen den Spruch: „Ehrlich währt am längsten“ – dabei vergessen wir aber oft, ehrlich zu uns selbst zu sein. Und das kann gefährlich werden. Wenn ich einen Euro für jedes Mal bekommen hätte, in der ein:e Anrufer:in entweder mich oder sich selbst belogen hat (was sich häufig in den Karten zeigte), wäre ich heute eine reiche Frau. Ehrlich zu mir selbst (und über mich selbst!) zu sein, ist für mich die einzige Option, wirklich zu wissen, wer ich bin. 
Mich selbst bei der Arbeit in Mitgefühl zu üben, hat sich auch auf andere Lebensbereiche ausgeweitet. Heute betrachte ich alle Mitmenschen als meine Nächsten – als meine Nachbar:innen: Vielleicht leben wir alle im selben Haus, brauchen aber doch unsere eigenen Rückzugsräume. Deswegen lese ich heute niemandem mehr die Karten (und auch nicht über jemanden), wenn ich nicht explizit darum gebeten werde oder mich die Situation selbst betrifft. Ich wollte die Karten ohnehin nie aus Neugier nutzen, heute ist das aber für mich ein absolutes No-Go. Nicht alles, was sich über eine Person in den Karten zeigt, geht mich etwas an!
Leider wurde meine Beziehung zu der Hotline genau wegen dieser selbst auferlegten Regeln immer schwieriger für mich. Nachdem ich eine Kundin ablehnte, die mir erzählt hatte, sie hätte schon Tausende Euro für ihre Lesungen bezahlt – immer zur selben Frage –, bekam ich großen Ärger.
Mir eröffneten sich während dieser einen Lesung zwei neue Pfade: Entweder nahm ich sie als Kundin an und zog die Lesung in die Länge – indem ich ihr große Versprechungen für ihre Zukunft machte –, oder ich hörte auf meine inneren Alarmglocken und sagte ihr, sie sollte den Rat beherzigen, den sie schon in vorherigen Lesungen bekommen hatte, bevor auch ich ihr nun denselben gab. Ich entschied mich für die erste Option und wies die Frau ab. Der darauf folgende Ärger bestärkte mich nur zusätzlich in meiner Überzeugung, ich sollte vorsichtiger damit sein, wozu ich Ja sagte. Nicht alles Geld ist gutes Geld, und als mir gesagt wurde, ich hätte keine Macht darüber, eine Kundin anzunehmen oder eben nicht, wurde mir klar, dass meine größte Macht darin liegt, eigene Entscheidungen treffen zu können. Ich muss selbst entscheiden können, ob ich Ja oder Nein sage. Ich muss entscheiden können. Hätte ich gern mehr Optionen zur Auswahl als Ja oder Nein? Klar! Aber zu wissen, dass man mich nicht kaufen kann und es für mich eine Grenze gibt, ist fantastisch.
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Letztlich geht es in der wichtigsten Lektion, die ich aus meinen Lesungen für die Hotline mitgenommen habe, darum, wie wichtig Veränderungen und Abschiede sind. Ich verließ die Hotline, weil ich mich daran erinnert hatte, dass man nirgendwo für immer bleiben muss – vor allem, wenn dein Geist darunter leidet. Die Karten verändern sich mit jedem Mischen und jedem Legen, und dasselbe gilt auch für das Leben. Es ist unheimlich erfüllend, diese Wahrheit zu akzeptieren und zu lernen, wie ich diese konstanten Veränderungen bewältigen kann.
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