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Warum ich mich gegen den Willen meiner Eltern tätowieren ließ & es niemals bereuen werde

Illustration: Paola Delucca.
Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, der strikt gegen Tattos war. Meine Eltern waren ganz besonders dagegen, obwohl sie sonst nicht streng waren. Es gab einige Regeln, die waren in Stein gemeißelt, sich niemals tätowieren zu lassen, war eine davon. Meine Mutter erzählte mir, ich würde mit einem Tattoo nie auf einem jüdischen Friedhof beigesetzt werden können. Mein Vater hingegen, drohte mir einfach damit, dass er den Kontakt abbrechen und nie wieder mit mir sprechen würde, sollte ich doch beschließen, mich tätowieren zu lassen. Basta. Ich hatte nie eine riesige Schwäche für die Tinte auf dem Arm. Die Toleranz meiner Schmerzempfindlichkeit bewegt sich gegen Null und ganz ähnlich verhält es sich mit meiner Entscheidungsfreude. Und das war schließlich keine Entscheidung für den Moment, ich müsste ein Motiv auswählen, das ich mein Leben lang an mir tragen würde. Doch als mein älterer Bruder verstarb, übermannt von Trauer und Fassungslosigkeit, und der Erkenntnis darüber, wie kurz das Leben doch sein kann, war ich mir plötzlich einer Sache sicher: Ich wollte ein Tattoo, und nichts und niemand konnte mich aufhalten. Die neu gewonnene Klarheit bedeutet aber nicht, dass sich meine Angst nicht weiter durchs ganze Knochenmark zog. Am Abend nach der Beerdigung meines Bruders machte ich mich also auf den Weg ins Tattoo-Studio, mein kleinerer Bruder, meine besten Freundinnen und meine Cousins begleiteten mich. Mein Herz raste. Ich diskutierte, überlegt, holte mir Meinungen und Ratschläge der anderen ein, und beschloss, mir das Wort „Sponge“ stechen zu lassen. Sponge, also Schwamm, so nannte mich mein Bruder seit wir klein waren. Meine beste Freundin war quasi Kalligrafin, sie kann atemberaubende, kursive Schriftzüge aus freier Hand zeichnen. Mit einer Büroklammer als Größenmaßstab fing sie also an, mir sponge auf die Innenseite meines linken Oberarms zu schreiben. Es war ein Kunstwerk, an einer diskreten Stelle, die ich jedoch gut sehen und nah an meinem Herzen tragen kann. Diese Stelle meines Körpers ist meine Lieblingsstelle geworden, das Tattoo mein Talisman. Doch so sehr ich es auch liebe, ich konnte es nicht übers Herz bringen, meinen Eltern davon zu erzählen. Ich schaffte es tatsächlich, so ziemlich jedem außer ihnen von meinem bleibenden Schmuckstück zu erzählen. Ich trug lange Ärmel auch bei warmen Temperaturen, und war keinesfalls bereit, es ihnen zu beichten. Nach einigen Monaten überwand ich meine Angst und begann zuhause auch kurzärmelige Kleidung zu tragen, vielleicht, weil ich unterbewusst wollte, dass meine Eltern es endlich merken, mich erwischen. Sie taten es nicht.
Illustration: Paola Delucca.
Eines Abends saß ich mit meinem Vater am Küchentisch, nur wir beide, und aus dem Nichts fragte er: „Du hast kein Tattoo, oder?“ Reflexartig zog ich meinen Ärmel hoch, fing an zu weinen und sagte ja. Er blickte auf, als wäre ihm ein Geist begegnet. Doch meine Tränen halfen mir ein wenig. Er kannte die emotionale Bedeutung hinter dem Wort und war, zu meiner völligen Überraschung, komplett begeistert davon. Er konnte gar nicht genug davon kriegen, es sich anzugucken. Er mache sogar ein Foto, das er sofort im Anschluss auf Instagram teilte. Darunter schrieb er: „Ein Wochenende mit meiner großartigen, starken, wunderbaren kleinen Sponge.“ „Nicht noch mehr Tattoos, okay?“, fragte er mich später am Abend. Ein paar Monate später fand es meine Mutter auf eine ähnliche Art und Weise heraus. Ich zeigte ihr gerade Bilder auf meinem Handy und aus plötzlich dachte sie, auf einem der Fotos ein Tattoo auf meinem Knöchel gesehen zu haben. Sie fragte mich sofort, ob ich eins hatte. Ein weiteres Mal war ich nicht darauf vorbereitet, es jemandem zu beichten, ein weiteres Mal forderte der Moment es einfach so ein. „Nein, Mama, das ist nicht mein Tattoo… da, am Knöchel… meins ist woanders.“ Ich zeigte es ihr und sie fing an zu weinen. Sie las es laut vor und verstand sofort, was gemeint war. und wie wertvoll dieses kleine Wort für mich war. So gut wie mein Vater konnte sie es jedoch nicht verarbeiten. Sie legte ihr Gesicht in ihre Hände und wippte von einer Seite zur anderen, in einem Zustand irgendwo zwischen Panik, Unglaube und Mutterliebe. Sie wusste genau, dass mein Bruder es geliebt hätte, wäre er da gewesen. Bis heute ziehen meine Eltern, wenn sie mich sehen, erst einmal meinen Ärmel hoch, um zu sehen, ob es noch da ist. Vielleicht hoffen sie, dass es doch nur ein temporäres Tattoo ist. Vielleicht haben sie es auch einfach lieben gelernt. Vielleicht ist es auch für sie das stärkste Andenken an ihren Sohn, meinen Bruder, der viel zu früh von uns ging – der durch dieses Tattoo ewig leben wird.
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