Kleine Frauen haben auf Konzerten normalerweise zwei Möglichkeiten: Sie können weit hinten auf einer Erhöhung stehen - oder mitten im frischen Achselschweiß, ohne auch nur die Beleuchtung auf der Bühne zu sehen. Über ein Dilemma, das nur mit Fantasie zu lösen ist.
Die Konzerte, auf denen ich die Musiker tatsächlich auf der Bühne gesehen habe, kann ich an einer Hand abzählen. Auf wie vielen Konzerten ich war? Mehr als hundert bestimmt. Ich bin klein. Madonna ist 24 Zentimeter größer als ich, Lady Gaga 15 und Kylie Minogue immerhin noch zwölf. Sie alle haben mir gegenüber einen Vorteil – sie stehen in der Regel auf der Bühne und nicht davor, wenn ein Konzert stattfindet.
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Wenn ich ein Konzert besuche, habe ich zwei Möglichkeiten. Entweder ich halte mich ziemlich weit hinten auf – dort, wo in der Regel die Sitzplätze oder irgendwelche Erhöhungen sind – oder ich kriege eine volle Ladung richtig frischen Achselschweiß ab, ohne zumindest die Beleuchtung auf der Bühne gesehen zu haben. Wenn ich in der Masse stehe, weiß ich im Anschluss nicht, ob ich selbst geschwitzt habe oder ob meine Haare so nass sind, weil irgendjemand über mir so richtig hart transpiriert hat. Ich habe mit meinem Gesicht schon diverse Pos zu nah begrüßt und in den letzten zwanzig Jahren ein Spiel entwickelt, das dem ursprünglichen Pong nicht ganz unähnlich ist. Ich reagiere blitzschnell auf nach hinten schnellende Ellenbogen, die ich – kurz bevor sie meine Nase erreichen – elegant mit der Handinnenfläche abweise. Schön, dass ich dabei wenigstens gute Musik hören kann.
Bei Billy Talent vor dem ersten Wellenbrecher
Als ich noch jung und naiv war, bin ich bei einem Festivalauftritt von Billy Talent (die alten Billy-Talent, als sie noch nicht "wieder da" waren, es ist also sehr lange her) vor den ersten Wellenbrecher marschiert. Why not, dachte ich, ich will mal so richtig Spaß haben. Ein Freund war dabei und ich dachte, der kriegt das schon hin, der passt auf mich auf. Fünf Sekunden nach Beginn des Konzerts wusste ich, dass ich auch schon einmal bessere Ideen gehabt hatte. Weitere zehn Sekunden später war der Freund weg und ich auf dem Weg nach draußen. Nach gefühlt fünf Liedern kam ich am Rand der Menge an, fand meine anderen Freunde und hatte sie noch nie so erschrocken gesehen. Meine Nase blutete, ein Auge war angeschwollen und meine Haare sahen selbst für Festivalverhältnisse sehr unordentlich aus. Aber ich war glücklich. Ich hatte es zumindest probiert. Daran denke ich immer leicht verklärt zurück, wenn ich jetzt auf irgendwelchen Hartschalen sitze und den Reflex unterdrücken muss, dem im Takt klatschenden Otto neben mir die Hände zu fesseln.
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Zurück zur jungen und naiven Zeit – ich kann nämlich genau den Tag benennen, an dem diese Zeit endete. Im Juni 2006 saß ich bei einem Konzert von The Hives auf den Schultern eines sehr großen Mannes. Das ist nett: Sie stellen sich vor mich, aber bieten dann immerhin an, mich auf die Schultern zu nehmen. Leider war speziell dieses Exemplar nicht nur sehr groß, sondern auch sehr, sehr betrunken, weshalb ich etwa zwei Lieder dort oben verweilte und der Mann dann überraschend nach vorne kippte und der Länge nach hinfiel, ohne sich abzustützen. In einer – auch für meine alkoholischen Verhältnisse zu dem Zeitpunkt – Blitzreaktion sprang ich bei der Hälfte des Sturzes von den Schultern ab und rettete mich mit stuntmanartiger Rolle zur Seite. Man muss alles in allem schon sehr sportlich sein, um mit 1,40 m Körperlänge bei Konzerten überleben zu wollen.
Fast alle Menschen auf Konzerten sind größer als ich. Und sie stehen immer vor mir. Wenn sie nicht vor mir stehen, stehe ich ganz vorne und dann drücken sie von hinten meinen Brustkorb so sehr gegen das Absperrgitter, dass ich nicht nur nichts mehr sehe, sondern auch nichts mehr von der Musik höre, weil ich entweder in Ohnmacht oder bei den Sanitätern bin. Manchmal wünsche ich mir die Kraft von Eleven aus Stranger Things. Ich würde dann alle vor mir einfach mit einem Kopfnicken zu Seite schubsen und hätte freien Blick auf die Bühne. Aber dann wäre die Stimmung sicherlich ein bisschen getrübt und darauf hätte ich auch keine Lust. Ich beschwere mich nicht. Wo sollen sich die Anderen hinstellen? Irgendjemand steht immer vor mir. Kurioserweise oft der, der über zwei Meter groß ist, aber das macht bei mir dann auch nichts mehr aus. "Du kannst ja gar nichts sehen!", sagen die Anderen dann ganz erschrocken. Und ich antworte: "Doch, doch, aber eben nur schöne Pullover oder Jeanshintern."
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Die kleine Frau braucht auf Konzerten viel Fantasie
Mir reicht es, die Musik live zu hören. Ich habe sehr viel Fantasie. Ich muss sehr viel Fantasie haben. Manchmal soufflieren mir Menschen ungefragt die Geschehnisse: "Sie steht jetzt ganz rechts und winkt. Nein, warte, jetzt reißt sie den langen Rock ab, wow! Und nun geht sie wieder zum Mikrofonständer." Es ist ein bisschen als hätte ich eine Live-Audiodeskription dabei und das macht das Konzerterlebnis leider nicht schöner, weil ich mich dann nämlich nicht mehr auf die Musik konzentrieren kann.
Versprecht mir eins: Wenn ihr das nächste Mal auf ein Konzert geht, benutzt doch ein wirksames Deo. Schaut euch mal um, wer da so neben und hinter euch steht. Tanzt mit euren Ellenbogen nicht als würde der Geist von Ian Curtis in euch stecken. Glaubt mir einfach, dass Konzerte auch ohne Bühnensicht Spaß machen können, wenn alle ein bisschen Rücksicht nehmen. Und gebt mir lieber ein Bier aus als den Versuch zu starten, mich auf die Schultern zu nehmen.
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