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Evolution statt Revolution – der sanfte Protest in Jerusalem

Foto: Ricky Rachmann
Im Rahmen einer Pressereise nach Jerusalem anlässlich der ersten Modeausstellung im Israel Museum bekam ich auch eine wirklich hochinteressante Tour durch die Altstadt der heiligsten aller Städte. Während einer Unterhaltung ließ Moti, unser Guide, ganz nebenbei durchklingen, dass er ebenfalls LGBTQ+-Touren anbietet und siehe da: Meine Neugier war geweckt!
Tel Aviv ist die Gay- und LGBTQ+-Hauptstadt des Mittleren Ostens, geschenkt. Aber was hat die Heilige Stadt mit dieser Community zu tun? Wie leben schwule, lesbische, trans* und bisexuelle Menschen in einer Umgebung, die so sehr von Religion geprägt ist wie vermutlich keine andere Stadt auf dieser Welt? Wie sind Religion und sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit im heutigen Jerusalem überhaupt vereinbar? Und wie sah es vor 2.000 Jahren aus?
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Fragen über Fragen, für die ich Moti nach meiner Reise noch mal am Telefon auf den Zahn gefühlt habe. Es gibt schließlich kein explosiveres und spannenderes Gemisch als Sexualität, Religion und Geschichte.
Refinery29: Moti, stell' dich doch mal kurz vor...
Moti Shushan: Ich heiße Moti Shushan und biete als Tourguide seit drei Jahren allgemeine, aber auch spezielle LGBTQ+-Touren durch die Heilige Stadt an, in denen ich einen Einblick in die Geschichte und die Jetzt-Zeit der LGBTQ+-Community in Jerusalem gebe. Meine sogenannten Gayrusalem-Touren finden etwa zwei Mal die Woche und nur auf Anfrage statt, und dauern etwa zwei bis drei Stunden. Buchen könnt ihr die Touren am besten per Mail, die ihr hier findet. Oder über Outstandingtravel.
Du hast zwei Jahre in Deutschland gelebt. Warum bist du wieder nach Israel zurückgekehrt?
Ich fand Deutschland super, habe aber das Quirlige und den israelischen Vibe vermisst. Gerade Berlin ist sehr offen, aber irgendwie konnte ich meiner jüdischen Identität am Ende nicht entfliehen. Ich habe das Hebräische vermisst, das Sprechen und Hören – ich habe einfach Heimweh gehabt. Lustigerweise zog ich nicht zurück nach Tel Aviv, sondern nach Jerusalem. Während meiner Zeit in Deutschland habe ich viel über das Judentum, die Heilige Stadt und die Bedeutung von Jerusalem für andere Religionen und auch die Geschichte Israels gesprochen und nachgedacht – und ich habe irgendwann gemerkt, dass ich mein eigenes Land eigentlich nicht kenne. Also machte ich direkt den Real Deal: Jerusalem. Tel Aviv ist, wie auch Berlin, eine Blase, in der man nicht viel von den Konflikten und der Geschichte Israels mitbekommt, wenn man nicht möchte. In Jerusalem bist du umgeben von Ultraorthodoxen, von Juden, Muslimen, Christen, Palästinensern und einer Menge Geschichte. Es gibt kein Entkommen.
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Du hast dich also mitten ins Getümmel gestürzt. Wie kamst du dann zu deinem Job als Tourguide?
Ich habe tatsächlich ein entsprechendes Studium abgeschlossen. Es dauert zwei Jahre und nach dem Abschluss ist man quasi ein Tourguide mit Diplom. Durch mein Studium habe ich plötzlich das Gefühl gehabt, dass ich nun verstehe, warum Jerusalem für die drei Denominationen so wichtig ist. Plötzlich habe ich den Islam verstanden und konnte auch nachvollziehen, woher Antisemitismus rühren kann und was die Zionisten antreibt. Ich habe das vielseitige Konstrukt, das sich spirituell, geschichtlich und religiös um diese Stadt rankt, einfach besser fassen können.
Wie ging es dann weiter auf deiner, ich nenne es mal „beruflichen Reise“?
Mir lief immer öfter der Begriff der „Abrahamitischen Religionen“ über den Weg. Es ist die Bezeichnung dafür, dass sich der Islam, das Judentum und das Christentum auf Abraham, beziehungsweise den Propheten Ibrahim beziehen. Er ist für alle drei Weltreligionen eine Vaterfigur und somit haben das alle drei gemein. Nur wie sie ihren Glauben auslegen, ist eben anders.
Und dieser Ansatz hat dich dann quasi auf deine Mission gebracht?
Jein. Zum einen habe ich begriffen, warum Jerusalem für eigentlich die ganze Welt so ein bedeutender Ort ist. Gleichzeitig habe ich aber auch gelernt, dass alle Religionen, so unterschiedlich und zerstritten sie mitunter sind, vieles gemeinsam haben. Und diesen Ansatz möchte ich in meinen Touren miteinbeziehen. Ich möchte zeigen, was uns alle eint, anstatt darauf abzuzielen, was uns unterscheidet.
Wie kam der Link zur LGBTQ+-Community und die Idee für diese spezielle Art von Tour?
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Je mehr ich über die Geschichte Jerusalems lernte, umso mehr bemerkte ich, dass hier einige Dinge verschwiegen, während andere selektiv erzählt werden. Als schwuler Mann stolperte ich natürlich als erstes über Homosexualität in der Geschichte. Alexander der Große ist in den drei großen Religionen ein Held, fast schon ein Heiliger – und er hatte einen Geliebten: Hephaistos. Als ich das hörte, dachte ich nur: OMG hier hat einer das größte Königreich überhaupt aufgebaut, war erfolgreicher Eroberer und schwul! Warum redet darüber niemand?!
Und warum redete niemand darüber, es gibt doch viel Literatur?
Nun ja, zu der Zeit wurde es nicht als Homosexualität bezeichnet. In der antiken griechischen Kultur und im Mittleren Osten war es normal, als Mann Liebhaber zu haben oder homosexuelle Liebesbeziehungen zu pflegen. Diese Offenheit ging in den folgenden Jahrhunderten verloren und wurde gezielt unter den Tisch gekehrt. Also suchte ich weiter. König David hatte ebenfalls einen Geliebten: Jonathan. Den Sohn seines Opponenten König Saul. In der Bibel wird nie wirklich gesagt, dass sie ein schwules Paar waren, aber die Texte haben interessante Hinweise. Zum Beispiel dieses Zitat in 2. Sam. 1, Vers 26: ‚Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonathan. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen.‘ Das ist schon sehr interessant, oder?
Ja, in der Tat. Vor allem, da man solche Geschichten in der Bibel vielleicht am wenigsten erwartet.
Eben. Nur: Ist es romantische Liebe oder nur Freundschaft? Das wird nicht ganz klar und auch ich möchte keine falschen Behauptungen aufstellen. Ich entschloss mich einfach dazu, diese Sachverhalte in meinen Touren offenzulegen und über diese interessanten Charaktere zu sprechen und darüber, ob sie möglicherweise, vielleicht aber auch nicht, homosexuell waren. Es geht nicht nur um Männer. Bei den Frauen ist die biblische Geschichte von Ruth und Naomi sehr interessant. Die Liebe von Ruth zu ihrer Schwiegermutter Naomi wird oft als eine lesbischen Liebe interpretiert. Ich sage nicht, dass es stimmt. Ich erzähle die Geschichte und lasse die Leute sich ihren Teil denken. Ich lege es quasi einfach nur offen auf den Tisch.
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Wie ist deine Recherche abgelaufen? Mit wem hast du gesprochen?
Ich habe hauptsächlich mit Menschen gesprochen, die hier leben oder gelebt haben. Vor 20, 30 oder sogar 40 Jahren schon. Ich bin an die Orte gegangen, an denen man sich trifft, wo die Szene ist – man könnte es Feldforschung nennen. Außerdem habe ich mich durch Unmengen von Zeitungsartikeln gelesen. Über die ersten Pride Paraden, die ersten Erwähnungen von Cruising Parks, das ist ja späte gesellschaftliche Geschichte, die nie wirklich heruntergeschrieben wurde. Und dann muss man einfach Eins und Eins zusammenzählen.
In den Achtzigern wurden alle Hamams in der Altstadt geschlossen. Also fing ich an zu recherchieren, warum. Ich fand Artikel über all die kleinen Skandale, die hier passierten. Männer, nackt, gemeinsam in einem Dampfbad – den Rest kann man sich dann schon fast denken.
Was ist noch so ein Beispiel für die queere Geschichte Jerusalems?
Der ganze Hamam-Lifestyle, schon zur Zeit des Osmanischen Reiches. Es gibt zahlreiche Geschichten über gay Happenings in den Hamams, in denen schließlich nur Männer verkehrten. Man könnte es fast schwule Poesie nennen, wenn man die Texte aus dieser Zeit liest. Die Geschichte Jerusalems ist voller Religion, ja, aber auch voller Liebe. Schwul-lesbisches Leben war hier immer schon ein großer, wenn auch nicht offen ausgesprochener Bestandteil und wird es immer sein.
Was bekomme ich, wenn ich eine Gayrusalem-Tour bei dir buche?
Ich biete zwei Touren in einem. Einmal geht es durch die Altstadt von Jerusalem. Den historischen Stadtkern mit dem Souk und den unterschiedlichen Vierteln. Hier spreche ich über die historischen Charaktere und die kontroversen Fakten in der Geschichte und den Gottesbüchern. Im Alten Testament findet sich zum Beispiel eine Stelle, die inzwischen fester Bestandteil von feministischer Forschung ist. Nach seinem Tod erschien der auferstandene Jesus zuallererst Maria Magdalena. Sie bekommt den Auftrag, die Botschaft weiterzugeben, dass der Tod nicht das Ende ist. Gott macht sie also zu einer Apostelin. Wenn man bedenkt, dass das Wort einer Frau damals kein Gewicht hatte, ist dies ein ziemlich klares Zeichen.
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In der Neustadt von Jerusalem stelle ich die moderne LGBTQ+-Community vor und zeige Orte, an denen sie aktiv ist und an denen man als Teil dieser Community sicher ist und sich vernetzen kann. Denn auch, wenn Tel Aviv als das Gay-Mekka im Nahen Osten gilt, wird die Gemeinschaft in Jerusalem oft noch angefeindet. Nicht zuletzt wegen der vielen strenggläubigen, eher konservativen Menschen hier. Die Szene in Jerusalem ist klein, aber sehr aktiv. In Tel Aviv sind Pride Paraden eine große Party, hier schwingt zusätzlich immer auch eine große Portion politischer Protest und Aktivismus mit.
Also möchtest du mit deinen LGBTQ+-Touren geschichtlich und ganz aktuell aufklären?
Unbedingt. Ich will zeigen, dass Offenheit der Weg ist. Wir sind hier sehr frei, aber die Gesellschaft ist nicht so offen, wie viele, die nach Tel Aviv schauen, denken. Wir dürfen uns nicht ausruhen. Ich will nicht zeigen, worin wir uns alle unterscheiden, sondern wo wir Gemeinsamkeiten finden können. Religionen oder Traditionalisten akzeptieren uns nicht? Dann erreichen wir mehr, wenn wir in den Diskurs gehen, anstatt uns ganz einfach zu distanzieren. Es gibt hier ein Restaurant, das von Schwulen geführt wird und in das zum Beispiel orthodoxe Juden gerne kommen, etwa für erste Dates oder für Dinner.
Gibt es eine Trans-Szene in Jerusalem?
Ja und die ist gar nicht mal so klein! Auch die Drag-Kultur in Israel hatte ihren Ursprung in einer Gay Bar in Jerusalem. Es gibt viele Orte in dieser Stadt, die ich in meiner Tour vorstelle und von deren Geschichte ich erzähle.
Was können die Besucher deiner Tour am Ende mit nach Hause nehmen?
Die Antwort auf die Frage, ob wir lieber kämpfen oder eine Minute innehalten und das Problem ohne Gewalt angehen sollten. Sogar das tödliche Attentat während der Pride Parade in Jerusalem 2016 wurde nicht mit Hass beantwortet. Die Community und deren Unterstützer*innen sind, ganz im Gegenteil, losgezogen, haben das Gespräch gesucht und haben versucht, Verständnis für ihre ‚Seite‘ zu schaffen. Angst kommt durch Unwissen und mit meiner Tour möchte ich hier gegensteuern. In meinen Touren hatte ich schon alle. Touristen, jüdische Palästinenser*innen, arabische Juden und Jüdinnen, sogar Palästinenser*innen aus Ramallah und orthodoxe Juden. LGTBQ+ ist nicht Sodom und Gomorrha – wir waren immer da!
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