Es gibt wenige Dinge, die mich wirklich wütend machen. Neben den Standard-Teasern wie Ignoranz, Unehrlichkeit und einem fehlenden Rückgrat ist es aber vor allem Überheblichkeit. Wenn Menschen denken, dass sie schlicht besser sind als ihr Gegenüber. Und noch mehr, wenn sich Menschen in ihren vom Gen-Pool-Lotto zugeteilten und per Geburt erhaltenen, vermeintlich besseren Attributen suhlen.
Der kleine Bruder von Überheblichkeit ist das Mitleid. Denn oft wird Mitleid an der Stelle geäußert, wo sie eher schadet, als hilft und in Bevormundung umschlägt. Besonders häufig fällt mir das beim Umgang mit körperlich und geistig behinderten Menschen auf. Garniert mit einer gewissen Berührungsangst wird oftmals ein so lauwarmer Cocktail daraus, dass man fast lachen möchte. Noch heute bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie mich in einen Montessori-Kindergarten geschickt haben, Berührungsängste sind mir hier also ebenso fremd wie Mitleid. Denn damit kommt man vielleicht irgendwohin, aber nicht voran.
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Bei der diesjährigen Verleihung des Fashion Fusion Award der Telekom während der Berlin Fashion Week stieß ich auf ein Projekt, das Vielseitigkeit und Inklusion in der Modebranche voranbringen und gleichzeitig unser Verständnis von „normal“ hinterfragen möchte. Project Love fertigt Kleidung für alle, die nicht der Schablone der Industrie entsprechen, weil sie zu dick, zu dünn, zu groß oder zu klein sind. Weil sie nur einen halben Arm haben, im Rollstuhl sitzen oder kleinwüchsig sind. Die Gründerin von Project Love, Kate Ogueri, nennt diese Menschen „Die Vergessenen“ und hat es sich zur Aufgabe gemacht, für sie alle perfekt sitzende Kleidung zu fertigen. Wie das gehen soll? Mithilfe von 3D-Body Scans.
Die Fashion Fusion ist ein internationaler Wettbewerb der Deutschen Telekom, in dessen Rahmen kreative Köpfe aus Mode und Technologie zusammenkommen, um mit smarten Textilien und neuen Ideen das tägliche Leben mit Kleidung zu vereinfachen und zu bereichern.
Zwar hat es das Project Love von Kate nicht auf das Siegertreppchen der Awards geschafft, doch mir ist die Idee so im Kopf hängen geblieben, dass ich die Idee dahinter und auch Kate besser kennenlernen wollte.
Refinery29: Wie bist du auf die Idee zu Project Love gekommen?
Kate Ogueri: Seit ich denken kann, bin ich übergewichtig und sehr groß. Als ich acht Jahre alt war, brachte mir meine Tante Barbara das Nähen bei. So fing ich an mir meine eigene Kleidung in für mich passenden Größen zu nähen, was sich bald auf meinen Freundeskreis erweiterte und schließlich darin mündete, dass ich für all jene Kleidung anfertigte, die in gewöhnlichen Geschäften nicht fündig wurden.
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Der Name Project Love fiel erstmals im Jahr 2016 und seitdem habe ich unermüdlich an diesem Projekt gearbeitet und es 2017 schließlich für die Fashion Fusion Competition vorgeschlagen. Mit Erfolg! Als ich die Zusage bekam, hatte ich gerade meinen Sohn Scottie bekommen und wusste, dass ich es alleine nicht würde stemmen können. Also holte ich mir Petra ins Boot. Eine gute Freundin und Modedesignerin für nachhaltige Kleidung und Schuhe.
Was möchtest du an der Modeindustrie verändern?
Ich würde gerne zwei Dinge ändern. Zum einen die Botschaft, die über Modezeitschriften und durch die ganze Branche kommuniziert wird. Eine Gesellschaft, in der Einmaligkeit tatsächlich gefeiert wird, indem man die individuelle Schönheit von Menschen erkennt und Unterschiede zelebriert. Denn selbstbewusste, glücklichen Menschen konsumieren ja trotzdem, ihr Antrieb wäre nur ein anderer. Wir brauchen dafür keine unerreichbaren Ideale der Branche.
Außerdem möchte ich die komplette Industrie auf den Kopf stellen. Ich glaube fest daran, dass maßgeschneiderte Kleidung die Zukunft ist. Keine Fast Fashion, keine überfüllten Lagerräume mit Kleidung, die niemandem wirklich richtig passt.
Bemerkst du schon ein erstes Umdenken der Branche?
Die Industrie fängt sehr langsam an, auch die Vergessenen, also Übergrößen, Rollstuhlfahrer*innen, sehr kleine Menschen und so weiter, als Absatzmarkt zu sehen. Mehr als in der Vergangenheit. Ich sehe außerdem gewöhnliche Menschen und Influencer, die nicht mehr darauf warten, von einer Marke oder einem Unternehmen gesehen und anerkannt zu werden, sondern die sich ihre Lösungen selbst erschaffen – und aus diesem Verlangen entstehen ganze Communitys.
Welches war der Moment, in dem du wusstest, dass du die Modebranche verändern möchtest?
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Das war schon der Fall, als ich anfing für meine Freund*innen und Familie Kleidung zu nähen. Der Stolz und die Freude waren ihnen anzusehen, wenn sie die Teile trugen, die ich extra für sie fertigte. Ein Schlüsselmoment war im Winter 2016. Ich fuhr zu einem Geburtstag, trug nur ein Kleid und merkte, dass es doch zu frisch war. Also ging ich in einen Laden, um mir Strumpfhosen zu besorgen. Der Laden hatte sie nicht in meiner Größe. Ich ging in weitere Läden, immer ohne Erfolg. Nach dem vierten, erfolglosen Stopp kaufte ich schließlich ein Model mit dem Namen „Queen XL”, aber ganz ehrlich? Es kam nicht mal ansatzweise über meine Waden.
Als ich auf der Party ankam, war ich verfroren, zu spät, fühlte mich schlecht und beschämt. Ich musste meine Queen XL-Strumpfhosen die ganze Zeit hochziehen, da sie immer wieder herunterrutschten. Nach 15 Minuten verließ ich den Geburtstag, setzte mich in mein Auto und weinte.
Wenn du einen Wunsch frei hättest, was wäre es?
Ich möchte, dass sich wirklich alle Menschen in unserer Gesellschaft wohl und auf positive Weise aufgenommen fühlen. Egal, welche Kleider- oder Körpergröße sie haben oder welche Fähigkeiten sie besitzen. Dann wünsche ich mir die Berücksichtigung von Menschen mit Behinderung nicht nur durch sporadische Rampen und Fahrstühle, sondern immer. Sei es bei Kleidung oder Mobilität. Wenn jemand in einem Schaufenster einen Look oder auch ein Paar Schuhe sieht, soll es dieser Person möglich sein, sie zu bestellen und sie sollen perfekt sitzen.
Was genau ist das Konzept von Project Love?
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Wir arbeiten mit den neuesten Errungenschaften aus den Bereichen 3D-Scanning, Mustererstellung, Digitaldruck und Produktion, und führen diese beim Project Love zusammen.
Der Körper wird per 3D-Body-Scan ausgemessen und auf Basis dieser Daten sowie den Präferenzen des*der Kund*in (Farben, Stoffe, Schnitt) entsteht dann das fertige Teil, das wir nähen und dann direkt zusenden. Das Scanning und die Zuschnitt-Software arbeiten sehr gut miteinander, dennoch stecken wir gerade noch ein wenig in den Kinderschuhen, klar. Zudem haben wir keinen eigenen Body Scanner. Am meisten Aufmerksamkeit brauchen die Anfertigung und Distribution. Nur dann kann dieses System erfolgreich sein, international werden und vor allem auch wettbewerbsfähig. Gerade arbeite ich an einer App, die die ganzen Abläufe für die Kund*innen streamlined.
Wenn das Prinzip mehr Aufmerksamkeit bekommt und mehr Geld investiert wird, kann es funktionieren. Ich habe Project Love gestartet, um einen neuen Weg in Sachen Anfertigung von Kleidung aufzuzeigen. Ich möchte so weit gehen, wie es mir möglich ist, aber am Ende ist das Ziel, die großen Konzerne von Inklusion und dem Loslösen von Standards und Schönheitsidealen zu bewegen.
Wie könnte ich jetzt etwa meinen persönlichen 3D-Body-Scan erhalten?
Es gibt viele Orte in Deutschland und Europa, in denen man sich scannen lassen kann. Leider sind die Prozesse nicht genormt, weshalb die Scans immer ein bisschen unterschiedlich ausfallen. Während der Fashion Week in Berlin haben wir einen Scanner angemietet, der für Modeproduktion optimiert ist. Aber nun wäre es am besten, du gibst uns deinen Wohnort durch und wir vermitteln dich an eine Scanning-Location.
Berücksichtig diese Art der Fertigung nur Basics oder könnte man auch Trendteile anfertigen?
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Es ist alles möglich, was immer du möchtest. Von Basics bis hin zu Fashion-Forward-Teilen.
Wisst ihr schon, wie, wo und von wem ihr eure Kleidungsstücke anfertigen lassen werdet und was sie kosten würden?
Unser System lässt uns schnell auf Bedürfnisse reagieren, dennoch sind wir auf ein perfektes Netzwerk von kleinen Manufakturen und Schneider*innen angewiesen, die die Produktion kosteneffektiv halten und eine Produktion im größeren Maße möglich machen. Unser Plan ist, immer in der Nähe des*der Kund*in zu produzieren. Wir würden die persönlichen Schnittmuster zu den Schneider*innen schicken und das fertige Teil dann zu den Kund*innen. Für konkrete Preise ist es noch zu früh, wir hoffen aber, dass wir verschiedene Preisoptionen anbieten können, je nach Verbrauch von Stoff, Nähaufwand, Details und so weiter.
Planst du, mit großen Marken zusammenzuarbeiten?
Ich bin sehr offen dafür, aber gerade ist es auch hier noch zu früh. Ich möchte mich noch darauf konzentrieren, mein System zu optimieren und ein weltweites Netzwerk aufbauen. In den vergangenen Jahren habe ich so viele tolle Start-ups kommen und gehen sehen, daher möchte ich mir die Zeit nehmen, die ich brauche. Aber mehr als alles andere möchte ich unsere Technologie bald Unternehmen vorstellen, die noch an den Möglichkeiten zweifeln, die uns diese Entwicklung bietet. Damit ich beweisen kann, dass eine Veränderung möglich ist. Ohne Wenn und Aber.
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