Etwas ratlos schaue ich mich um in der Stadt, die ich nur aus Geschichtsbüchern kenne. Franz Ferdinand, das Kaiserreich, der Erste Weltkrieg. Danach reißt mein Wissen ab und setzt sich erst mit dem Bosnienkrieg fort. Von Wissen zu sprechen, wäre hier aber fast anmaßend. Im Grunde habe ich keine Ahnung von diesem Land und seinen Menschen. Vom Glanz und Glamour der einstig imperialen Kaiserstadt ist auf den ersten Blick jedenfalls nicht mehr viel zu sehen. Trotzdem ist da eine unbeschreibliche Energie in der Luft. Kein Wunder, denn Sarajevo gilt als eine der traditionsreichsten und vielseitigsten Städte dieses Teils Europas und ist doch isolierter denn je zuvor. Seit dem Krieg ist es still geworden um das geschichtsträchtige, verträumte Städtchen. Doch am Fuße des Dinarischen Gebirges brodelt es. So wie einst nach dem Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger oder unter der Herrschaft von Tito. Auch wenn die Fassaden verlassener Häuser, ja ganze Straßen, noch immer auf ihren Wiederaufbau warten — die Stadt ist voller Gegensätze und der einstige Geist, Vorreiter für eine Sache zu sein, ungebrochen. Nur, dass der Rest Europas davon (noch) nichts wirklich mitbekommen hat. Auch ich nicht. Bis zum heutigen Tag.
Doch von vorne. Als mein Freund auf die Idee kommt, nach Bosnien zu fahren, glaube ich zuerst, er nimmt mich auf den Arm. Bosnien? Warum nicht Mallorca oder Ibiza? Meine ersten Gedanken kreisen um die Bilder aus dem Fernsehen, die sich während meiner Kindheit in den 90er Jahren in mein Gedächtnis gebrannt haben. In den Nachrichten ging es immer wieder um diesen Krieg — Bosnien gegen Serbien — jahrelang. Von Jugoslawien und später dem ehemaligen Jugoslawien war die Rede. Ebenso wie meine Eltern oft vom Westen und der ehemaligen DDR gesprochen haben. Das habe ich natürlich alles nicht zuordnen können. Wohl aber, dass sich da einiges tut, auf diesem Kontinent. Neue Nachbarn tauchten auf, die angeblich aus dem Krisengebiet kamen, und verschwanden wieder, als der Krieg vorbei war. Ebenso wie die Meldungen über Sarajevo. Vergessen. Sarajevo — na klar, denke ich. Dicht gefolgt von der absurden Frage: Ist das denn sicher? Da war doch Krieg? Für den Gedanken will ich mich im selben Atemzug selber Ohrfeigen. Fahren wir also nach Sarajevo!
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Nachdem ich mich ein wenig durchs Netzt geklickt habe — immer noch etwas ahnungslos, worauf ich mich da einlasse, stoße ich zufällig auf das Onlinemagazin „Fashion.Beauty.Love“ und eine überraschend gut vernetzte Kreativ-Szene in der Stadt. Wieder ärgere ich mich. Warum überrascht mich das überhaupt? Schnell wird klar: Die Wortführer sind zumeist junge Frauen. Ein von ihnen ist Sabina. Ich tue, was unsere Generation tun kann: ich schreibe ihr auf Facebook. Noch während ich mich durch ihr Social Media Profil klicke, bekomme ich eine Antwort. Sabinas Instagram Account ist düster. Sie modelt, fotografiert, arbeitet als Grafikdesignerin und trägt vorzugsweise schwarz. Außerdem ist sie ganz offenbar überzeugte Feministin. Damit habe ich nicht gerechnet. Auch nicht damit, dass sie uns gerne treffen will. Und sie soll nicht die einzige bleiben. Auch andere Mädchen, die ich im Zuge meiner Entdeckung angeschrieben habe, bieten Hilfe an. Ich bin überwältigt von so viel Offenheit. Auf einmal kann ich es kaum mehr erwarten.
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Sarajevos Altstadt ist ein farbenfroher und vor allen Dingen friedlicher Schmelztiegel der Religionen
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Drei nächtliche Passkontrollen und eine 12-stündige Busfahrt von Wien später, sind wir angekommen. Ich bin müde und wieder skeptisch. Das Taxi, das uns ins Zentrum fährt, ist mindestens 30 Jahre alt. An der Autoscheibe ziehen graue Häuserfassaden vorüber. Trist ist es. Bis wir in der Altstadt einfahren. Vorbei am aufwendig restaurierten neomaurischen Rathaus, das heute die Nationalbibliothek beherbergt, dem osmanischen Bazaar mit all seinen Marktbuden und orientalischen Schätzen, hinein in ein wildes Wirrwarr aus schmalen Gassen. Hier zeigt sich plötzlich, was ich schon überall gelesen habe: Sarajevos Altstadt, auch Stari Grad genannt, ist ein farbenfroher und vor allen Dingen friedlicher Schmelztiegel der Religionen. Anleihen aus dem Juden-, Christentum und Islam finden sich an allen Ecken. Meine Müdigkeit ist vergessen. Unsere Unterkunft mitten auf der belebten Hauptverkehrsader der Stadt, der Mula Mustafe Bašeskije, in einem erhaltenen, ehemaligen österreichisch-ungarischen Gebäude mit Parkettboden und Flügeltüren steigert meine Laune noch zusätzlich. Da riskiert selbst die Sonne einen verstohlenen Blick. Keine Stunde später sitzen wir im Barhana bei urig italienischem Ambiente und plaudern mit Sabina, als würden wir uns schon ewig kennen. Sie erzählt über ihre Heimat, die sie als eine von wenigen während des Krieges nicht verlassen hat. Bis heute nicht. Zumindest nicht dauerhaft. Die Welt hat sie natürlich gesehen, zuletzt war sie in New York. Wir erfahren, dass es in Sarajevo im Volksmund zwei Zeitrechnungen gibt — „vor dem Krieg“ und „nach dem Krieg“. Natürlich schimpft sie viel die Stadt — zu wenig Clubs, zu wenig Zeitgeschehenen und Bewegung, zu wenig junge Leute. Dafür schwärmt sie von Berlin. Resignieren will sie trotzdem nicht. Manchmal träumt sie davon zu gehen, sagt sie. Aber sie will bleiben und etwas bewegen, so wie viele andere.
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Am nächsten Tag treffen wir Sabina wieder, dieses Mal im Kinocafé Meeting Point — einem der wenigen Orte, wo man bis spät in die Nacht Freunde treffen kann — auf der anderen Seite des Flusses Miljacka, der die Stadt in zwei ungleiche Teile teilt. Sie ist nicht allein. Ihre Freundin Anida ist bei ihr. Anida ist Modedesignerin und spricht fließend Deutsch. Sie war in Deutschland im Exil und spricht noch mehr über den Krieg als Sabina. Darüber, was er mit der Stadt gemacht hat. Vielleicht, weil sie ihr den Rücken zugekehrt und Zuflucht in Deutschland gefunden hat. Nur ihr Vater sei damals geblieben, um sie zu verteidigen. Sie sollte ihn erst viele Jahre später wiedersehen. Sichtlich erleichtert darüber reden zu können, zündet sie sich eine Zigarette nach der anderen an, während sie von ihren Plänen, nach Hamburg oder Berlin zu ziehen, erzählt. Schnell wird klar: Sie, die genauso alt sind wie wir, wissen um Längen mehr über das Leben bei uns, als andersherum. Und obwohl Anida vom Gehen spricht, findet sie ansonsten nur liebevolle Worte für Sarajevo und bestärkt Sabina zu bleiben. Man könne nichts verändern, wenn man wegläuft, das sei ihr wohl klar. Nur die Perspektiven für sie als Modedesignerin sind leider immer noch sehr begrenzt. Dabei würde sie gern etwas bewegen hier. So wie einst Tito, der große Josip Broz Tito. Bis heute vergöttern viele junge Menschen den ehemaligen kommunistischen Anführer und hängen ihm in Nostalgie nach. Dabei geht es weniger um seine Politik. Sie suchen nach Vorbildern, die sie derzeit nur in der Vergangenheit oder außerhalb der Ländergrenzen finden. Letztlich wollen sie alle Sarajevo nur aus dem Schatten seiner Vergangenheit verhelfen.
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Nach dem Krieg mussten viele Familien ohne Männer auskommen. Die Frauen haben zusammengehalten, die Vaterrolle übernommen und ihre Kinder so gut es ging auf das neue Leben vorbereitet
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In ihren Erzählungen ist immer wieder von starken Frauenpersönlichkeiten aus ihrem Freundeskreis die Rede — von allein erziehenden, jungen Müttern genauso wie erfolgreichen Galeristinnen, Künstlerinnen oder Filmemacherinnen. Ich will wissen, woher das kommt, dieses starke Frauenbild. Das sei schon immer so gewesen, sagen sie. Jeder durfte hier sein, was er sein wollte. Dieser Geist hat sich erhalten. Hinzu kommt, dass nach dem Krieg viele Familien ohne Männer auskommen mussten. Die Frauen haben zusammengehalten, die Vaterrolle übernommen und ihre Kinder so gut es ging auf das neue Leben vorbereitet. Das prägt.
Am Abend nimmt uns Sabina mit zu Freunden in eine kleine Neubauwohnung in der Innenstadt. Der Aufstieg erinnert an die Treppenhäuser und die Ostblockarchitektur aus meiner Kindheit. Im Wohnzimmer sitzen etwa fünfzehn junge Leute um einen Tisch. Sie spielen Brettspiele, rauchen und trinken. Wir werden so selbstverständlich in dieser intimen Runde empfangen, als gehörten wir immer schon dazu. Tun wir vielleicht auch, denn die Gruppe besteht überwiegend aus Studenten der Sarajevo Film Academy und sind zumeist zugezogen. Mir wird ein Teller mit Cevapcici gereicht, das Nationalgericht der Bosnier. Ich esse eigentlich kein Fleisch, will aber nicht unhöflich sein. Die gegrillten Röllchen aus Hackfleisch schmecken, wie es in der Altstadt und den Markthallen duftet. Nach Gewürzen, Holzkohle und gebratenem Fleisch. Ich wische die Finger an meiner Jeans sauber. Es ist nach 24 Uhr, in der Altstadt ist jetzt das Wasser abgestellt. Hände waschen ist bis zum Morgengrauen nicht möglich. Wir ziehen ohnehin schon wieder weiter ins Kino Bosna, vielleicht gibt es da Wasser. Das Bosna ist ein ehemaliger Kinosaal, der heute als Bar genutzt wird. Nur einmal in der Woche werden hier noch Filme gezeigt. Ansonsten erinnern Schwarz-Weiß Portraits von großen Schauspielern und Schauspielerinnen an seine ursprüngliche Funktion. Tische und Stühle stehen wild zusammengewürfelt beieinander, das Licht ist grell. Zu grell für eine Kneipe, aber das scheint niemanden zu stören. Der Laden ist voll. Es ist Montagabend. Wir suchen uns einen Tisch an der Seite von Marylin Monroe. Christina steht auf und kommt mit einem Tablett Rackia zurück. So geht das die ganze Nacht. Reihum.
Christina kommt aus England. Nachdem sie die ganze Welt bereist und lange in Japan gelebt hat, ist sie jetzt hier. Sarajevo sei so unverbraucht und die Filmakademie wirklich renommiert. Sie hat gerade ihr Debüt als Regisseurin abgeschlossen. Der Film wird im August auf dem jährlichen Filmfestival uraufgeführt. Das ist eine ziemlich große Sache! Worum es denn in dem Film ginge, fragt jemand. Um die Suche nach Identität, um die Idee des dream weaver, erwidert sie. Wie aus dem Song von Gary Wright? Nein, eher wie bei John Lennon: „The dream is over. What can I say? The dream is over. Yesterday, I was the dream weaver. But now I'm reborn. I was the Walrus. But now I'm John. And so dear friends. You just have to carry on. The dream is over,“ summe ich leise vor mich hin. Während die Studenten aus Großbritannien, Mexiko und Italien an unserem Tisch noch eifrig darüber diskutieren, ob und wenn, welcher der Protagonisten nun der Funktion des dream weaver gerecht wird, lasse ich den Blick schweifen. Vielleicht ist Sarajevo ja der dream weaver. Mit all seinen Idealen aus der Vergangenheit und dem sehnlichen Wunsch ein Exempel in Europa zu statuieren, wie friedliches Zusammenleben unterschiedlichster Religionen und Kulturen funktioniert. Der Krieg hat vieles davon kaputt gemacht, bis auf den Kampfgeist und den Willen der jungen Menschen, die wir treffen durften. Der Traum der Eltern-Generation mag geplatzt sein, jetzt sind Sabina und ihre Freunde dran, den ihren zu leben und Sarajevo aus dem Dornröschenschlaf zu erheben.
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