Anmerkung der Redaktion: Es folgen grafische Beschreibungen der Vergewaltigung wie sie unsere Autorin erlebt hat.
Ich wurde vergewaltigt. Es ist schwierig, das auszusprechen, und ich habe Jahrzehnte gebraucht, um mit den Emotionen und Gedanken fertig zu werden, die das Aussprechen in mir auslösen würde. Und doch muss ich heute versuchen, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Ich muss. Weil gerade in diesem Moment irgendwo auf der Welt Frauen vergewaltigt werden. Ohne, dass sie etwas dazu beigetragen hätten, und noch schlimmer: ohne, dass die Täter bestraft werden. Ich muss, weil Richter und Richterinnen es im 21. Jahrhundert noch immer für angemessen halten, den Opfern vorzuwerfen, sie hätten ihre „Beine nicht spreizen“ oder „eine Armlänge Abstand halten“ sollen. Dass ein Mann behauptet, er dürfe Frauen widerstandslos begrapschen, weil er ein Star sei – und dass dieser Mann zum Präsidenten der USA gewählt wird. Dass noch immer die Opfer zum Mittäter werden, weil sie sich nicht gewehrt oder so verhalten haben, wie die gesellschaftliche Norm es erwartet. Als Opfer einer Vergewaltigung zu sprechen bedeutet, das auszusprechen, was ich eigentlich vergessen, hinter mir lassen will. Es bedeutet auch, etwas zu sagen, das eigentlich nicht gehört werden möchte – so wird es uns vermittelt. Vergewaltigung ist ein unangenehmes Thema. Es ist zu sensibel und zu grafisch, um es offen auszudiskutieren. Aber wie sollen wir ein Problem lösen, wenn wir nicht darüber reden? Wenn wir nur weiterhin flüstern, wird die Schweigespirale ins Endlose laufen und die, die es aussprechen, werden immer das Gefühl haben, etwas Falsches zu tun. Und damit habe ich ein für alle Mal abgeschlossen. Als ich 15 Jahre alt war, ging ich auf die Party eines Mitschülers. Seine Eltern waren nicht zu Hause und er hatte meine Freundin Jane* eingeladen, mit der ich hinging. Wir waren auf einer katholischen Mädchenschule und kannten keinen der dort Anwesenden. Es waren zum größten Teil Jungen. Auf dem Weg zur Party schwärmte Jane vom Gastgeber, in den sie verknallt war. Ich nenne ihn Blaine*. Er war der beliebteste Typ an der Schule, auf die sie ging bevor sie zu uns kam. Er fuhr ein neues, glänzendes Auto, war Captain der Schulmannschaft und lebte in einem großen, wunderschönen Haus. Das fiel mir alles sofort auf, weil ich, obwohl ich auf eine Privatschule ging, aus einem eher bescheidenen Haushalt kam. Ich war in zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen und wurde von einer Tante aufgenommen, die so großzügig war und für meine Schulgebühren aufkam, in der Hoffnung, mich so auf die sonnige Seite des Lebens zurückzuholen und mir eine vielversprechende Zukunft zu ermöglichen. Was ich zu diesem Zeitpunkt mehr als alles andere wollte, war, wie die anderen, die normalen Teenager in meiner Umgebung zu sein. Blaine war älter als wir. Er war fast 18 und war somit quasi der Rockstar seines Jahrgangs. Wie es mit 15-jährigen Mädchen eben so ist, war ich mit Statussymbolen und Ruhm leicht zu beeindrucken. Nach der Beschreibung meiner Freundin fing ich an zu träumen. Vom perfekten ersten Freund, der etwas älter war, mich in seinem Auto abholte und mir seine Jacken um die Schultern legte, wenn ich fror. Ich wusste also: Ich muss mich auf dieser Party mit Blaine gutstellen.
Ich wurde vergewaltigt. Es ist schwierig, das auszusprechen, und ich habe Jahrzehnte gebraucht, um mit den Emotionen und Gedanken fertig zu werden, die das Aussprechen in mir auslösen würde. Und doch muss ich heute versuchen, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Ich muss. Weil gerade in diesem Moment irgendwo auf der Welt Frauen vergewaltigt werden. Ohne, dass sie etwas dazu beigetragen hätten, und noch schlimmer: ohne, dass die Täter bestraft werden. Ich muss, weil Richter und Richterinnen es im 21. Jahrhundert noch immer für angemessen halten, den Opfern vorzuwerfen, sie hätten ihre „Beine nicht spreizen“ oder „eine Armlänge Abstand halten“ sollen. Dass ein Mann behauptet, er dürfe Frauen widerstandslos begrapschen, weil er ein Star sei – und dass dieser Mann zum Präsidenten der USA gewählt wird. Dass noch immer die Opfer zum Mittäter werden, weil sie sich nicht gewehrt oder so verhalten haben, wie die gesellschaftliche Norm es erwartet. Als Opfer einer Vergewaltigung zu sprechen bedeutet, das auszusprechen, was ich eigentlich vergessen, hinter mir lassen will. Es bedeutet auch, etwas zu sagen, das eigentlich nicht gehört werden möchte – so wird es uns vermittelt. Vergewaltigung ist ein unangenehmes Thema. Es ist zu sensibel und zu grafisch, um es offen auszudiskutieren. Aber wie sollen wir ein Problem lösen, wenn wir nicht darüber reden? Wenn wir nur weiterhin flüstern, wird die Schweigespirale ins Endlose laufen und die, die es aussprechen, werden immer das Gefühl haben, etwas Falsches zu tun. Und damit habe ich ein für alle Mal abgeschlossen. Als ich 15 Jahre alt war, ging ich auf die Party eines Mitschülers. Seine Eltern waren nicht zu Hause und er hatte meine Freundin Jane* eingeladen, mit der ich hinging. Wir waren auf einer katholischen Mädchenschule und kannten keinen der dort Anwesenden. Es waren zum größten Teil Jungen. Auf dem Weg zur Party schwärmte Jane vom Gastgeber, in den sie verknallt war. Ich nenne ihn Blaine*. Er war der beliebteste Typ an der Schule, auf die sie ging bevor sie zu uns kam. Er fuhr ein neues, glänzendes Auto, war Captain der Schulmannschaft und lebte in einem großen, wunderschönen Haus. Das fiel mir alles sofort auf, weil ich, obwohl ich auf eine Privatschule ging, aus einem eher bescheidenen Haushalt kam. Ich war in zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen und wurde von einer Tante aufgenommen, die so großzügig war und für meine Schulgebühren aufkam, in der Hoffnung, mich so auf die sonnige Seite des Lebens zurückzuholen und mir eine vielversprechende Zukunft zu ermöglichen. Was ich zu diesem Zeitpunkt mehr als alles andere wollte, war, wie die anderen, die normalen Teenager in meiner Umgebung zu sein. Blaine war älter als wir. Er war fast 18 und war somit quasi der Rockstar seines Jahrgangs. Wie es mit 15-jährigen Mädchen eben so ist, war ich mit Statussymbolen und Ruhm leicht zu beeindrucken. Nach der Beschreibung meiner Freundin fing ich an zu träumen. Vom perfekten ersten Freund, der etwas älter war, mich in seinem Auto abholte und mir seine Jacken um die Schultern legte, wenn ich fror. Ich wusste also: Ich muss mich auf dieser Party mit Blaine gutstellen.
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Ich wusste, was es bedeutete, wenn er meinen Körper gegen die Treppe nach oben drückte.
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Kurz zuvor wurde ich von einer lokalen Modelagentur aufgenommen. Meine Figur – ich war von Natur aus eher lang und schlacksig – kam in der Regel sehr gut bei männlichen Teenagern an. Und so war es auch, als wir auf der Party ankamen. Blaine stürmte zur Tür, um uns zu begrüßen. Nachdem Jane sich doch für einen seiner Freunde entschieden hatte, fand ich mich nicht allzu lange nach unserer Ankunft mit Blaine tuschelnd und flirtend in der Küche wieder. Ein paar ekelhafte Light-Biere später, nachdem ich mich über jeden seiner pubertären Witze schlappgelacht hatte, küsste er mich. Immer nur dann, wenn niemand zusah. Das fand ich toll – und küsste ihn zurück, weil ich wollte. Irgendwann erwischte uns jemand und sagte „Nehmt euch ein Zimmer!“ Die Leute hatten uns bemerkt und wir hatten das Bedürfnis, von der Bildfläche zu verschwinden.
Wir huschten aus der Küche, knutschten weiter, Blaine führte mich mit seinem Körper durch den Flur zur Treppe nach oben.
Wir huschten aus der Küche, knutschten weiter, Blaine führte mich mit seinem Körper durch den Flur zur Treppe nach oben. Ich wusste, was das bedeutete, wenn er meinen Körper mit seinem vorantreiben wollte und wich aus. „Ich gehe nicht mit dir nach oben“, sagte ich ihm. „Ich will keinen Sex mit dir haben. Ich kenne dich gerade mal seit einer Stunde.“
Die Wahrheit ist, dass ich gerade meine Tage bekommen hatte. Ich war keine Jungfrau – und hätte nicht an diesem Tag meine Periode begonnen, hätte ich womöglich sogar Sex haben wollen. Aber nicht an diesem Tag. Ich hatte Schmerzen und starke Blutungen. Nicht an diesem schlimmsten Tag.
„Komm schon“, sagte er. „Wenn du keinen Sex haben willst, werden wir auch keinen Sex haben. Aber hier unten sieht uns jeder dabei zu. Ich verspreche dir, wir werden keinen Sex haben, aber lass uns trotzdem nach oben gehen.“ Er küsste mich weiter.
„NEHMT EUCH EIN VERDAMMTES ZIMMER!“, schrie noch jemand. Ich kicherte, rollte mit den Augen und ging etwas widerwillig die Treppen hoch in sein Zimmer. Er legte mich aufs Bett, beugte sich über mich und küsste meinen Hals. Das mochte ich! Ich mochte, wie er seinen Körper gegen meinen drückte. Aber ich wollte keinen Sex mit ihm haben. Nicht an diesem Tag, nicht unter diesen Umständen. Weil ich ihn eigentlich mochte. Als er mit seiner Hand an den Reißverschluss meiner Hose ging, schob ich sie beiseite. „Nein“, sagte ich, doch er hörte nicht auf mich und führte sie direkt wieder zurück. Er riss den Knopf und den Reißverschluss mit einem kräftigen Griff auf. Allein die Wucht dieser Bewegung machte mir Angst. Ich geriet in Panik und bat ihn, damit aufzuhören. Ich hatte mich von ihm abgewandt, konnte ihm nicht mehr ins Gesicht schauen.
„Ich hab’ NEIN gesagt, du Arsch! Ich habe meine Tage. Hör auf mit dem Scheiß!“
Das war der Punkt, an dem die Stimmung ernsthaft zu kippen begann. Wir lieferten uns einen Kampf. Er richtete sich kurz auf und riss mir die Shorts an den Beinen herunter. In dem Moment wollte ich mich aufrichten, doch das Bett nahm mir den Halt und er drückte mich sofort wieder in die Matratze. „Hör auf damit!“, schrie ich erneut. Unten konnte mich niemand hören, die Musik war so laut, dass sie bis ins Schlafzimmer dröhnte. Ich hatte Angst. Er grinste. Fertigte jedes Nein süffisant ab und packte mich nur immer wieder bei den Knöcheln. Ich schrie ihn weiter an, dass ich ihn nicht mehr küssen wollte und dass er mich nicht anfassen soll. Ich drehte mein Gesicht weg und spürte seine Hand in meinem Schritt. Er grabschte herum, suchte den Tamponfaden mit aggressiven Gesten. Als er ihn fand, zog er den blutdurchtränkten Tampon mit einem Ruck raus und schmiss ihn auf den Boden. Ich konnte nicht glauben, was da gerade passierte. Ich versuchte noch einmal, aufzustehen, doch bevor ich mich bewegen konnte, drückte er mich schon wieder runter. Mein drahtig-dünner Körper hatten gegen seinen durchtrainierten Körper keine Chance.
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It was at this point that everything changed.
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Ich gab nach. Das Gefühl, ihm ausgesetzt zu sein, hatte übernommen. Was dann folgte, war ein Einkehren. Ich gab Ruhe und kehrte in mich. Ich hielt mich an all meine Gedanken und Erinnerungen, als wären sie eine Montage. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, was da gerade passierte: Ich werde vergewaltigt. Oh Gott. Es passiert wirklich. Dann setzte der nächste Schritt ein. Eine Art Überlebensdrang. Physisches Überleben. Leider ein nicht unbekanntes Gefühl – auch als Kind wurde ich misshandelt. Ich hatte in all den Jahren einen Copingmechanismus entwickelt, mit soziopathischem Verhalten umzugehen. Mein Kopf fing einfach an, die üblichen Fragen zu stellen: Wie komme ich hier lebend raus? Wie verhalte ich mich, um das zu überleben? Die Gedanken schnellten durch meinen Kopf. In Bruchteilen einer Sekunde.
Ein Gedanke: Hör auf, ihm Widerstand zu leisten. Das macht ihn nur noch aggressiver. So verletzt er auch noch dein Äußeres. Bewahre dein Äußeres, belasse es beim Inneren.
Noch ein Gedanke: Vergewaltigung. Das Wort allein. Ich denke an die Momente, in denen ich das Wort jemals benutzt habe.
Eine Erinnerung: Ich bin sechs oder sieben Jahre alt und sitze am Küchentisch und frage, „Mama, was ist Vergewaltigung?“
„Das ist, wenn jemand dich zwingt, Sex zu haben, obwohl du nicht willst.“
Blaine drang mit einem starken Stoß in mich ein. Ich wollte weinen.
Noch eine Erinnerung: Ich hatte meine Mutter überhaupt erst gefragt, weil ich auf der Kommode bei den Eltern einer Freundin eine Broschüre gesehen hatte. Auf dem Deckblatt stand in fetten, schwarzen Großbuchstaben „VERGEWALTIGUNG“. Ich kannte das Wort nicht, aber so wie es da stand, sah es angsteinflößend aus. Ich hatte es schnell aufgeklappt – was ich sah, waren nur zwei Punkte: „Wie du überlebst“ und „Wie du die Kontrolle übernimmst“. Das körperliche Überleben schien also vorrangig das Wichtigste zu sein. Eine Zeile auf der Seite ist mir besonders in Erinnerung geblieben: „Wenn du vergewaltigt wirst, versuche nicht, dem zu widerstehen oder zu verkrampfen, denn das wird dich nur noch mehr traumatisieren. Versuch am besten, zu entspannen.“
Rückblickend merke ich, dass mir diese Broschüre sagen wollte, ich solle so tun, als würde ich dem Täter die Kontrolle wegnehmen, indem ich mich entspannte. Denn das, was der Täter eigentlich will, ist Kontrolle.
Blaine drückte meine Handgelenke so fest, dass ich förmlich spürte, wie meine Hände blau anliefen. Er stieß immer und immer härter in mich, ich war regungslos. Ich entschloss, meine Hände zu entspannen, dann entspannte er auch seine. So taten zumindest meine Hände etwas weniger weh.
Ich glaube, meine Freundin wurde vergewaltigt. Was kann ich tun?, stand noch in der Broschüre.
Seine Beine drückten gegen meine Knie und hielten sie somit fest am Bett.
In diesem Moment war ich so dankbar wie noch nie für mein Periodenblut. Es wirkte wie Gleitmittel zwischen meinen Beinen. Relax. So wirst du nicht verletzt. Vermeide weitere Verletzungen. Relax. So wirst du keine weiteren Wunden davontragen. Ich wollte weiter nachdenken, mich auf meine Gedanken konzentrieren anstatt auf das, was da gerade mit mir geschah. Ich versuchte daran zu denken, wie ich ihn verraten würde. Wie ernst das alles war. Dass er ins Gefängnis kommen würde und seine Zukunft ruiniert war. Relax.
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Ein Gedanke: Ich saß im Gerichtssaal – und keiner würde mir glauben.
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Er küsste immer wieder mein Gesicht, während er mit all seiner Kraft in mich hineinpreschte. Ich fühlte mich, als wäre ich nicht mehr Teil meines Körpers. Einen kurzen Moment lang, fühlte es sich an wie ein Triumph: Ich habe ihn ausgetrickst. Er denkt jetzt, ich mag es. Währenddessen träumte ich weiter von seiner Verhaftung und seiner Strafe.
„Magst du es jetzt?“, fragte er. Er drückte sein Becken gegen meine Klitoris. Mein Blut war nicht mehr warm. Meine Schenkel kaltnass.
Ein Tagtraum: Ich saß im Gerichtssaal. Er war der Verteidiger. Ich zeigte mit dem Finger auf ihn. Dann dachte ich an die Fragen, die mir gestellt würden, und mich verließ jede Hoffnung.
„Sind Sie Jungfrau?“
„Nein.“
„Nein? Und mit nur 15 Jahren?“
„Ja.“
„Mit wie vielen Menschen hatten Sie schon Sex?“
„Fünf.“
„Haben Sie Blaine freiwillig geküsst?“
„Ja.“
„Sind Sie freiwillig mit ihm ins Zimmer auf der oberen Etage gegangen?“
„Ja.“
„Wurden Sie schon einmal Opfer sexueller Gewalt?“
„Ja.“
„Wurde der Täter oder die Täterin verurteilt?“
„Nein.“
„Haben Sie an besagtem Abend getrunken, obwohl Sie minderjährig sind?“
„Ja.“
„Wie sind Ihre Noten in der Schule?“
„Nicht gut.“
„Haben Sie schon einmal Drogen genommen?“
„Ja.“
„Wurden Sie schon einmal suspendiert?“
„Ja.“
„Ich würde gerne meinen nächsten Zeugen aufrufen. Den Herrn, der im Foyer stand.“
Würde mir irgendjemand in diesem verdammten Gerichtssaal glauben, dass ich, promiskuitives, Gesetze brechendes, Drogen konsumierendes Stück von diesem quasi perfekten, jungen Herrn mit makelloser Vergangenheit vergewaltigt wurde?
Nein.
Blaine stieß immer wieder in mich hinein. „Gefällt es dir?“ Er drückte fester. Und fester. Aber ich blieb stumm.
Noch eine Erinnerung: Adam und Eva. Eine Passage aus der Bibel, in der beschrieben wird, dass Frauen Leid auszuhalten haben. Dass wir von Gott bestraft werden. Dass es unsere Erbsünde und unsere Strafe sei, in Ewigkeit wegen eines Apfels zu leiden. So lehrte man es uns in der Schule. Wenn Gott will, dass ich so leide, dann gibt es keinen Gott. Die Broschüre hat gesagt, ich genieße das hier. Ich soll genießen, damit ich nicht verletzt werde. Ich habe den Apfel genommen, weil ich musste. Nur so komme ich hier lebend raus.
Jetzt schreibe ich hier das Detail nieder, das ich eigentlich nie aussprechen wollte. Das Detail, das Zweifel schüren wird an meiner Geschichte. Daran, dass das wirklich passiert ist. Daran, dass ich es nicht wirklich verdient und gewollt habe. Aber ich werde es sagen, denn ich sage die Wahrheit.
Ich konzentrierte mich, ging zurück in meinen Kopf.
Ich kam.
Während mir Tränen an den Wangen und am Hals herunterströmten, hatte ich einen physischen Höhepunkt erreicht. Mein Körper hatte mich im Stich gelassen. Ich wollte mir die Rippen aus der Brust, die Haare einzeln ausreißen.
Er kam in mir. Ich lag gelähmt auf dem Bett. Er küsste mich. Ich stand auf, ging zur Dusche und benutzte ein Handtuch, um meine blutigen Beine abzuwaschen. Als ich hörte, dass er aus dem Zimmer ging, schloss ich die Tür ab und brach im Badezimmer zusammen.
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Meine Angst und mein Schweigen wurden zu seinen engsten Komplizen.
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„Erwarten Sie, dass wir Ihnen glauben, dass Sie unfreiwillig zum Orgasmus kamen?“
„Nein.“
So würde das Szenario ausgehen. Deshalb habe ich bisher nie ein einziges Wort gesagt. Wer sollte mir denn glauben?
Einige Zeit nach der Party, fand die nächste statt. Diesmal bei Jane zu Hause. Blaine kam und warf sich an Amber*, ein süßes Mädchen mit perfekten Noten. Sie war Jungfrau und vielleicht hatte sie bis dahin nicht einmal Alkohol probiert. Im Laufe des Abends sah ich sie mit Blaine die Treppen hinaufgehen. Genau wie ich. Ich werde nicht mehr darüber erzählen, weil es nicht meine Geschichte ist, aber Ambers Erfahrung hatte meine sogar noch übertroffen. Sie hatte lebensbedrohliche Verletzungen davongetragen.
Ich bereue es, geschwiegen zu haben, weil ich jetzt weiß, dass ich Amber hätte mit meiner Aussprache davor bewahren können. Zumindest wäre es so schon die zweite Anzeige gegen Blaine. Mein Gewissen verfolgt mich damit bis heute. Ich frage mich manchmal, wie viele andere da draußen ihre Vergewaltigung verschwiegen haben. Ich habe Jahrzehnte verstreichen lassen. Jahrzehnte mit der falschen Scham. Der Täter will dich kontrollieren. Die Kontrolle hatte ich ihm in dem Moment überlassen, in dem ich beschlossen hatte zu schweigen. Der Moment, in dem ich die Stimme in meinem Kopf ignorierte. Meine Angst und mein Schweigen wurden zu seinen engsten Komplizen.
Bei all den Vergewaltigungen, die mir in den Nachrichten oder in den sozialen Medien entgegenströmen, weiß ich nicht, was ich denken soll. Dass immer noch von Scham und Schande gesprochen wird. Dass die Täter – Brock Turner, Bill Cosby – noch immer ungestraft davonkommen, während Frauen sich an Vorbeugungsregeln halten sollen.
Was kann ich dagegen tun?
Ein Gedanke: sprechen. Dem Täter die Kontrolle entreißen. Es hat nicht für mich selbst gereicht und es hat nicht für Amber gereicht. Aber vielleicht, wenn ich heute offen darüber spreche, traut sich jemand, dem das vor Kurzem erst passiert ist, auch laut und offen darüber zu sprechen.
Ich kenne keine Scham. Ich muss mich nicht schämen. Ich bin keine Märtyrerin. Ich schulde keinem Gott einen verdammten Apfel.
*Alle Namen wurden auf Wunsch der Autorin geändert.
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