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Mein Recht auf ADHS: Warum Frauen so oft erst gar keine Diagnose erhalten

Foto: Brayden Olson.
Denkt man an ADHS, haben die meisten Leute das Bild von einem hyperaktiven Jungen im Kopf, den sie auch gern Zappelphilipp nennen. Das ist einer, der nicht still sitzen kann und in der Schule durch mangelnde Impulskontrolle immer wieder auffällig wird. Die eigentliche Tragik liegt dabei aber nicht nur in der Ignoranz gegenüber der Diversität der Symptome, sondern vor allem in dem Umstand, dass diese Annahme auf klinischen Studien beruht, die in den 70er-Jahren ausschließlich mit weißen Jungen durchgeführt wurden. Anhand dieser Forschung wurden Diagnosekriterien entwickelt, die bis heute gelten. Nur zur Erinnerung: Es sind inzwischen über vierzig Jahre vergangen! Aber verändert hat sich überraschend wenig, insbesondere im deutschen Raum. Ich habe aber trotzdem ADHS. Und ich bin eine Frau.
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„Manchmal werde ich gefragt, wie sich ADHS anfühlt. Ein bisschen wie den ganzen Tag To-Do Listen zu schreiben, bis man am Abend dann eine To-Do Liste über To-Do Listen hat, die man am nächsten Morgen wegwirft.“

Adhs bei erwachsenen Frauen

In den USA sind in den vergangenen Jahren zunehmend professionelle Stimmen laut geworden, die einen neuen Aspekt der Forschung in den Mittelpunkt rücken: ADHS kann potenziell alle Menschen treffen, ADHS kennt kein Gender. Die Diagnoserate beträgt derzeit allerdings immer noch 3:1. In Sachen ADHS kommt auf drei Männer eine Frau. Immerhin ein Fortschritt, denn vor einigen Jahren ging man noch von einer Prävalenz von 10:1 aus.
Besonders unterschiedlich in Bezug auf das Geschlecht ist jedoch der Zeitpunkt der Diagnose. Frauen erhalten oft bis ins Erwachsenenalter hinein falsche Diagnosen oder erfahren manchmal ihr Leben lang nicht, was mit ihnen los ist. Die Wahrscheinlichkeit durch die Störung ein niedriges Selbstbewusstsein zu entwickeln und an Depressionen zu erkranken, ist hoch. Die Suizidraten sind dementsprechend ebenfalls hoch. Wir müssen also dringend mehr über Frauen mit ADHS reden.

Männer, Frauen und die Säulen von ADHS

Die Erfahrungen, die Mädchen mit ADHS machen, unterscheiden sich in grundlegenden Punkten von denen, die Jungs machen, dessen Symptome vorwiegend im Bereich der Hyperaktivität angesiedelt sind. Jungen zeigen häufiger ein auffälliges Verhalten nach außen, im Mittelpunkt stehen Probleme wie Impulskontrolle, Aggressivität oder Wut.
Wenn man sich ADHS als eine Störung vorstellt, die auf den drei Säulen Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität ruht, entwickeln ADHSlerinnen tendenziell eher Symptome in Bereich der Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu Jungen neigen Mädchen aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation schon früh unbewusst zu sogenannten Coping Mechanismen, also Bewältigungsstrategien, um Abweichungen zu ihren Altersgenossinnen und das Nichterfüllen gesellschaftlicher Erwartungen zu kompensieren. Experten sprechen hier auch von einer „Maskierung“ der Symptome.
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Diese Coping Mechanismen führen dazu, dass die Störung bei Frauen meistens sehr lange nicht erkannt wird und es häufig nur zu Zufallsdiagnosen kommt, wenn durch ungünstige Bewältigungsstrategien Folgeerkrankungen wie Essstörungen, Depressionen oder Angststörungen auftreten.
Viele Frauen mit ADHS leiden auch im Erwachsenenalter an einem konstanten Gefühl von Überforderung und können diesen oftmals nicht begründen, weil ihnen die Diagnose und damit leider auch die Möglichkeit zur Krankheitseinsicht fehlt. Die Ursachen werden internalisiert, denn Frauen neigen sozialisationsbedingt dazu, die Verantwortung für ihre Probleme zuerst bei sich selbst zu suchen – und das hat leider weitreichende Folgen für viele Betroffene.

Vielen ADHSlern wird seit ihrer Jugend erzählt, dass sie dumm seien oder anstrengend, nervig, chaotisch, krank, faul oder abnorm. Diese Dinge fressen sich wie Säure in eine Seele, die ohnehin schon komplett überfordert ist mit sich selbst. Was folgt sind Selbsthass und tiefe Verunsicherung. Für viele Betroffene ist es deshalb schwer, sich selbst zu mögen.

Viele Dinge, die für Nicht-ADHSler alltäglich sind, können von betroffenen Frauen nicht automatisiert werden und stellen eine immense Belastung dar. Einkaufen, Termine, Telefonate, aber auch Freundschaften und Beziehungen. Sie berichten zudem, dass sie sich auf Partys oder in Gesellschaft schnell überfordert fühlen. Sie leiden unter Reizüberflutung oder dem Gefühl, Lautstärke ungeschützt ausgeliefert zu sein. Sie haben Probleme mit dem Organisieren oder eben mit dem genauen Gegenteil: Einer zwanghaften Fokussierung auf Planung, die als Kompensation der eigenen Defizite zu verstehen ist.
Im Unterschied zu Jungen, dessen Symptome im Laufe der Pubertät eher zurückgehen, nehmen die Symptome bei Frauen in dieser Entwicklungsphase zu, werden aber aus Unwissenheit häufig als Pubertätsrebellion abgetan – ganz nach dem Motto „das wächst sich schon wieder aus“. Die Verletzungen, die sich daraus ergeben, hinterlassen tiefe Spuren. Jungen hingegen externalisieren in diesem Alter die Symptome und reagieren mit Wut und nach außen gerichteter Aggression.

Männer haben eine Tendenz dazu Schmerz von sich abzuwälzen, indem sie Aggressionen nach außen entwickeln. Im Gegensatz dazu neigen Frauen dazu Gefühle von Selbsthass zu entwickeln.

ADHS und ich

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, muss ich sagen, dass ich sehr behütet aufgewachsen bin. Ich war ein gesundes und glückliches Kind, das bevorzugt mit älteren Jungs aus der Nachbarschaft abhing. Dabei konnte ich aus Sicht der Erwachsenen am lautesten „rumkommandieren“, was aus heutiger Perspektive eine ziemlich abwertende Bezeichnung für ein selbstbewusstes Mädchen war. Ich war allerdings mutig. Aber auch eine Tagträumerin, die stundenlang in ihrem Zimmer Tiersticker sortieren oder Minipiano spielen konnte. Zuhause war ich sehr impulsiv. Ich habe die Wäscheleine im Affekt zerschnitten, das Fahrrad gegen die Wand geworfen und eine Schere im Kopf meines Bruders versenkt.
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Nach der Einschulung wurde meine Charakterstärken, die vorher regelmäßig gelobt wurden, plötzlich zu vermeintlichen Charakterschwächen. Meine Ideen und meine Durchsetzungskraft wurden zu einem handfesten Defizit. Meine Meinung galt nun als Aufsässigkeit. Hinterfragen war unangebracht. Der Frontalunterricht brach mir die Beine. Ich war total unterstimuliert. Das Lerntempo war an guten Tagen zu langsam und an schlechten Tagen viel zu langsam. Ich kann mich an Wochen erinnern, an denen ich in der Schule kein einziges Wort gewechselt habe, weil ich nur in die Leere hinter der Tafel starrte und vor mich hin träumte. Rasende Gedanken, aber ein eingeschlafenes Äußeres. Die Frustration wuchs von Tag zu Tag.

Meine Coping-Strategien

In der Pubertät wurde die Impulsivität schlimmer. Ich erspare meinen Eltern die Details, an dieser Stelle alles noch einmal lesen zu müssen. Aber ich kiffte und ich randalierte. In der Schule verhielt ich mich unter größter Anstrengung immer unauffällig, was mir daheim unter den ständigen Provokationen meines älteren Bruders nicht gelang. Ich fand einen Weg das System zu betrügen, in welchem ich immerzu scheiterte, wenn ich so war wie ich nun einmal war – und trotz meiner hohen Intelligenz einfach nicht genügte. Meine Lösung lautete, nicht aufzufallen! Ich war ein Meister der Tarnung. Bloß niemandem etwas erzählen. Immer nur so viel preisgeben und leisten, dass man gerade so durchrutscht. Schule. Freundschaften. Abi. Studium. Das klingt einfach, aber das alles hat meine ganze Kraft gefressen. Ich war bemüht, stets interessiert auszusehen, während meine Gedanken rasten und die Emotionen in mir tobten.
Rückblickend weiß ich, dass diese Selbstaufgabe unbewusst passierte. Ich wurde unsicher. Errötete schnell. Und steckte im totalen Rückzug. Meine Selbstzweifel wuchsen. Wieso bekam ich die einfachsten Dinge nicht auf die Reihe, wenn ich so war wie ich nun einmal war? Gegenüber meinen Eltern tat ich allerdings selbstbewusst. Heute ist es offensichtlich, welche Coping-Strategien ich damals anwendete und wie ich die Selbstzweifel dadurch einfach nur internalisierte und zu einem lebenslangen Begleiter machte.
Meine Diagnose bekam ich erst mit Mitte 20. Eher durch Zufall. Wegen Depressionen und weil ich ausgeprägte Sozialängste entwickelt hatte. Ich wollte mich lieber nicht mit Menschen umgeben, weil ich immer das Gefühl hatte dann nicht ich selbst sein zu können. Alles würde auffliegen. Was auch immer dieses „alles“ war. Nach all den Jahren wusste ich es nicht mehr. Heute ist es mir klar. Es war nichts. Es war bloß ADHS bei Mädchen.

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