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Kindesmissbrauch: Michael Jacksons Opfer brechen das Schweigen

Photo: Courtesy of HBO.
Triggerwarnung: Dieser Artikel behandelt sexuellen Missbrauch von Kindern.
In den USA ist eine Dokumentation herausgekommen, die aktuell hohe Wellen schlägt: Leaving Neverland. Der Film behandelt die seit Jahrzehnten im Raum stehenden Vorwürfe gegen den verstorbenen Popstar Michael Jackson, in seinem Privatanwesen, der sogenannten Neverland Ranch, eine Vielzahl von Kindern sexuell missbraucht zu haben. Zwei seiner Opfer melden sich jetzt zu Wort. Wade Robson und James Safechuck brechen ihr Schweigen und beschreiben nicht nur im Detail, was damals passiert ist, sondern auch, welche verheerenden Folgen der Missbrauch auf ihr gesamtes Erwachsenenleben hatte.
Wade Robson gibt an, seit seinem siebten Lebensjahr von Jackson sexuell missbraucht worden zu sein, bei James Safechuck begann der Missbrauch im Alter von zehn Jahren. Beide erzählen, dass der Popsänger das Interesse an ihnen verlor, sobald sie in die Pubertät kamen. Jacksons Familie weist alle Anschuldigungen zurück.
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In der Dokumentation berichten beide Männer, als Erwachsene verschiedene psychische Krankheiten durchlebt zu haben: Depressionen, Angstzustände, Schlafstörungen sowie das Gefühl von Selbsthass, Isolation, Scham und Probleme in ihrem Beziehungsleben. Safechuck beschreibt außerdem eine Phase, in der er Drogen nahm. Er erklärt: „Geheimnisse fressen einen auf. Sie entziehen dir jegliche Lebensenergie, entfernen dich von dir selbst. Es fühlt sich so an, als wären Teile von dir tot. Es hat mich alles gekostet, tagsüber zu funktionieren, Leuten weiszumachen, ich sei ein funktionierender Mensch. Es war unendlich anstrengend, alles zusammenzuhalten. Wenn ich dann nach Hause kam, war ich ein Wrack.“
Laut der US-amerikanischen Organisation RAINN [Rape, Abuse & Incest National Network] erleben eines von neun Mädchen und einer von 53 Jungen unter achtzehn Jahren in den Vereinigten Staaten sexuellen Missbrauch oder tätliche Angriffe. Auf der Seite vom Hilfeportal Sexueller Missbrauch heißt es in Bezug auf Deutschland: „Eine neuere deutsche, repräsentative Studie kommt zu dem Ergebnis, dass etwa jede*r achte Erwachsene in Deutschland in seiner Kindheit und Jugend sexuelle Gewalterfahrungen machen musste.“ Die Autor*innen betonen jedoch, dass viele dieser Übergriffe nie angezeigt wurden und die Dunkelziffer schwer festzulegen ist, was eine genaue statistische Erfassung unmöglich macht.
Zu den häufigen Langzeitschäden sexuellen Missbrauchs gehören posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Drogenmissbrauch. In einer Erklärung gegenüber Refinery29 sagte eine Vertreterin von RAINN: „Alle 11 Minuten wird ein Kind in den Vereinigten Staaten sexuell missbraucht. Überlebende von sexuellem Kindesmissbrauch können die Auswirkungen auch noch viele Jahre nach den Taten spüren. Dazu gehören auch Schuld- und Schamgefühle, die daraus herrühren, dass die Opfer den Missbrauch nicht selbst beenden konnten. Es ist wichtig, dass die Überlebenden wissen, dass der Missbrauch nicht ihre Schuld war und dass es keine allgemeingültige Zeit gibt, nach der der Heilungsprozess abgeschlossen sein muss.“
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Kristen Houser, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit beim US-amerikanischen National Sexual Violence Resource Center, betont, dass die Erfahrungen jeder und jedes Überlebenden individuell sind. Neben den Auswirkungen, die Robson und Safechuck in Leaving Neverland beschreiben und denen, die von RAINN genannt wurden, sagt Houser, dass es weitere mögliche Langzeitschäden gibt. Dazu gehören Stimmungsstörungen, Essstörungen, Selbstmordgedanken und Probleme mit Wut. Sie weist auch darauf hin, dass sexueller Missbrauch in der Jugend die Bildung eines Kindes stören kann, was seine langfristigen Karrieremöglichkeiten und seine finanziellen Aussichten im Erwachsenenalter beeinträchtigt.
Das beschreibt auch Safechuck in der Dokumentation. Er erzählt, wie Michael Jackson seine Eltern dazu ermutigte, ihn nicht mehr zum Schulunterricht zu schicken, damit er sich ganz auf sein Ziel konzentrieren könne, Regisseur zu werden. Der Popstar unterstützte ihn außerdem finanziell, damit er Kurzfilme drehen konnte, einen davon sogar auf der Neverland Ranch. „Er hat einen sehr abhängig von sich gemacht. So nach dem Motto ‚Du musst nicht in die Schule gehen, ich kümmere mich schon um deine Bildung.’ Als er mir dann den Rücken zuwandte, entgleiste es irgendwie und ich war ziemlich verloren.“
Mic Hunter ist klinischer Psychologe und Autor des Buches „Abused Boys: The Neglected Victims Of Sexual Abuse”, welches bisher nur auf Englisch erschien. Er erklärt, dass einige Menschen, die in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, auch in ihrem Erwachsenenleben Schwierigkeiten haben, in sexuellen Begegnungen Nein zu sagen. „Manche lernen, dass es nichts bringt, Nein zu sagen, weil diese Dinge sowieso passieren. Selbst wenn sie dann älter werden und tatsächlich die Wahl haben, weil sie mittlerweile erwachsen sind, hat sich in ihrer Psyche festgesetzt, dass sie nicht Nein sagen können.“ Houser fügt hinzu, dass es einige Täter*innen gibt, die sich bewusst Opfer suchen, die in ihrem Leben bereits sexuellen Missbrauch durchlebt haben. „Wir wissen, dass sexueller Missbrauch für viele Menschen kein einmaliges Ereignis ist“, sagt sie. "Es gibt Täter*innen, die gezielt nach Schwachstellen suchen, die sie ausnutzen können."
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In Leaving Neverland erzählen Robson und Safechuck, die heute beide Väter sind, dass es ihre psychischen Schwierigkeiten verschärft hat, eigene Kinder zu haben. Bei Robson kamen sein Regiedebüt und die Geburt seines ersten Kindes zum gleichen Zeitpunkt. Der Stress war zu groß und führte schlussendlich zum Zusammenbruch. „Ich konnte gar nicht mehr schlafen und lag acht, neun Stunden lang wach im Bett und starrte die Wand an. Ich war unendlich gestresst und hatte Ängste, die man sich gar nicht vorstellen kann. Es war so schlimm, dass ich kaum noch funktionieren konnte. Ich distanzierte mich von meinem Film, von jeglicher Arbeit, ich verschwand aus der Welt. Egal ob Agenten oder Manager, niemand sollte mich mehr anrufen. Und auch mit meiner Familie habe ich kaum noch geredet.“
Expert*innen sagen, dass ein eigenes Kind ein „Augenöffner“ für Überlebende von sexuellem Missbrauch in der Kindheit sein kann, und Safechuck erklärt in der Dokumentation, warum. „Ich denke, die Missbrauchssymptome verstärken sich, wenn man Kinder hat“, sagt er. „Vor allem, wenn man sieht, wie unschuldig Kinder sind. Ich denke, das wird einem dann erst richtig bewusst. Mein Sohn kommt jetzt dem Alter näher, in dem ich war, als ich missbraucht wurde. Es ist also schwierig, damit umzugehen und zu sehen, wie er in diesem Alter irgendwie ein wenig zu einem selbst wird.“
Für Robson war die Geburt seines eigenen Kindes der Anstoß, der ihn dazu brachte, zum ersten Mal über seinen Missbrauch zu sprechen. Safechuck hatte schon früher auf seinen Missbrauch hingewiesen, als er seine Mutter bat, Jackson während eines Prozesses im den Jahren 2004 und 2005 nicht zu verteidigen, aber er behielt die Details für sich. Das änderte sich allerdings, als er Robson im Fernsehen sah und dieser ein Interview zu seinen Erfahrungen gab. „Du hast diese Symptome und dann findest du heraus, dass jemand anderes sie auch hat. Weil er genau das selbe durchgemacht hat wie du“, sagt Safechuck. „Ich wollte wirklich nur mit Wade reden, weil ich mich so allein gefühlt habe.“ Nachdem er Robson gesehen hatte, fand auch er den Mut, sich anzuvertrauen. Safechuck zeigte seiner Frau das Interview und sprach das erste Mal mit ihr über seinen eigenen Missbrauch.
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Oftmals braucht es viele Jahre, bis sich die Opfer mit dem Missbrauch in ihrer Kindheit abfinden können. Safechuck erklärt: „Die Leute sagen immer, die Zeit heile alle Wunden. Ich glaube jedoch nicht, dass diese mit der Zeit heilen wird. Es wird nur immer schlimmer. Du kannst mit niemandem drüber reden. Du bekommst weder Ratschläge, noch erklärt dir jemand eine andere Sicht auf die Dinge. Du musst ein Geheimnis wahren, damit es nie wirklich an die Oberfläche kommt. Du steckst einfach fest.“ Dr. Hunter sagt: „In der Regel geht es nicht von allein weg. Die Leute hoffen jedoch die ganze Zeit, dass das passiert. Zu mir kommen Männer in ihren Sechzigern, die sagen: ‚Ich habe gehofft, dass es verschwinden würde, aber als mein Sohn acht wurde, kam alles wieder hoch. Und jetzt ist mein Enkelsohn acht und ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich habe wieder diese Gefühle und diese Gedanken, die einfach nicht weggehen wollen und ich habe es satt und will mich jetzt endlich damit befassen.’“
Die Expert*innen, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, haben alle betont, dass eine Heilung möglich ist. Houser beispielsweise sagt: „Wenn du das Gefühl hast, dass dir jemand glaubt und dir den Rücken freihält und dir helfen will, wieder gesund zu werden, kann das eine lebensverändernde Erfahrung sein.“ Sie erklärt, dass Heilung für jede*n anders aussieht, es aber einige Gemeinsamkeiten gibt. „Die Menschen müssen sich unterstützt fühlen und das Gefühl haben, dass ihnen geglaubt wird“, erklärt sie. „Diese schrecklichen Erfahrungen bestätigen zu lassen, ist ungemein wichtig. Genauso, wie Leute zu haben, die einem dabei helfen, zu erkennen, dass man für das Geschehene nicht verantwortlich ist. Die einem sagen: Du hast das nicht verursacht und du hast auch keinen Charakterfehler an dir, der bewirkt, dass Menschen dich so behandeln. Überlebende von Missbrauch brauchen oft andere Menschen, die ihnen helfen, sich selbst mit ihren Augen zu sehen und die ihnen Mut machen, ihre eigene Stärke und ihre Widerstandsfähigkeit zu erkennen.“
Wenn dir sexuelle Gewalt oder Missbrauch widerfahren ist, bekommst du beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch unter 0800/22 55 530 kostenlos und anonym Hilfe.
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