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Warum es eigentlich eine gute Sache ist, uns zu schämen

Foto: Molly Cranna
Neulich kaufte ich einen billigen Strauß knallpinker Sonnenblumen. Ich hatte sie auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier entdeckt und konnte nicht anders, als sie zu kaufen. Bis auf mich und ein paar Angestellte war der Laden leer. Als mir die Kassiererin das Wechselgeld gab, beschloss ich, mir ein paar Sekunden Zeit zu nehmen, um es ordnungsgemäß in meinem Portemonnaie zu verstauen. Da niemand hinter mir stand, musste ich mich nicht beeilen.
Warum also fing mein Herz nur fünf Sekunden später an, wild zu klopfen? Vielleicht lag es daran, dass die Jungs hinter dem Schalter auf mich warteten und mich anzustarren schienen. Jede Sekunde fühlte sich wie zwei Wochen an. Es half auch nicht, dass ich ein zu volles Kartenetui statt einer Brieftasche benutzte und das Bargeld deshalb nicht leicht hineinschieben konnte. Tage (Millisekunden) später gab ich die ganze Sache auf, stopfte die Scheine und das Kleingeld in meine Tasche, schnappte mir den Blumenstrauß und eilte hinaus in die kalte Nacht und auf einen Bürgersteig voller Menschen. Urteilten auch sie über mich?
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Erst viel später, als ich auf der Geburtstagsfeier war, hatte ich die Gelegenheit, die zerknitterten Geldscheine zu glätten und sie in mein Kartenetui zu stecken. Und schon war ich wieder frustriert: Ich bin ein erwachsener Mensch. Was genau ist so peinlich daran, vor anderen Leuten Kleingeld wegzulegen?
Irgendetwas anscheinend schon: Es ist eine beinahe universelle Erfahrung, beim Hantieren mit Wechselgeld in der Kassenschlange in Verlegenheit zu geraten. Andere Dinge, die nicht peinlich sein sollten, es aber dennoch sind, sind außerdem: aus Lebensmittelgeschäften hinauszuspazieren, ohne etwas gekauft zu haben; auf jemanden zuzugehen, den man kennt, wenn ihr euch zwar gesehen habt, aber etwas zu weit entfernt voneinander seid, um bloß „hallo“ zu sagen und weiterzugehen; Geschenke vor anderen zu öffnen; zu husten, um dich zu räuspern, und dann festzustellen, dass du jetzt tatsächlich wieder husten musst. (Natürlich ist Husten während der Pandemie mit einem größeren sozialen Stigma behaftet als vorher. Schon davor wollte ich mich aber am liebsten in Luft auflösen, wenn ich zum Beispiel im Matheunterricht eine Reihe von Hustenanfällen hatte).
Das sind einige Situationen, in denen wir uns üblicherweise ohne einen wirklich triftigen Grund schämen. Was einem Menschen peinlich ist, kann aber auch sehr einzigartig sein und von außen oft besonders unbedeutend wirken. Morgens laufe ich meistens im Freien auf den Bürgersteigen der Stadt und fühle immer, wie mein Selbstbewusstsein etwas einknickt, wenn andere Leute in der Nähe sind, sobald ich meinen Aufwärmspaziergang beendet habe und damit anfange, zu laufen. Der Moment, in dem ich mein Tempo erhöhe, fühlt sich so an, als würde ich allen zurufen: „Hier bin ich, ich gehe laufen!!!“ Das macht zwar mich nervös, aber ich bin mir sicher, dass es sonst niemandem auffällt. Und selbst wenn, ist es nichts Ungewöhnliches, mit dem Joggen zu beginnen. Ich trage ja schließlich Trainingskleidung, also verstehen alle sicherlich, was los ist.
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Die Art von Verlegenheit, die du empfindest, sobald du feststellst, dass dir den ganzen Tag schon etwas zwischen den Zähnen steckt, ist für mich etwas nachvollziehbarer: Die meisten von uns wissen, dass es ablenkend oder sogar unangenehm sein kann, mit jemandem zu sprechen, der ein Stück seines Mittagessens neben seinem Schneidezahn eingeklemmt hat, und wir mögen den Gedanken nicht, dass wir möglicherweise jemanden verärgert haben. Ich habe noch nie jemanden misstrauisch angesehen, der gerade seine Jogging-Runde begonnen hat. Warum habe ich also dann immer das Gefühl, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, wenn ich es tue?
„Wir schämen uns, wenn wir ein Verhalten an den Tag legen, das nicht im Einklang mit unseren sozialen oder moralischen Normen ist. Im Grunde kommt es dazu, wenn wir gegen das ‚soziale Skript‘ verstoßen“, erklärt Dr. Matthew Feinberg, außerordentlicher Professor an der Rotman School of Management der Universität von Toronto. „Die wichtigsten Faktoren, die hier im Spiel sind, sind: (a) wir tun etwas, das nicht dem gesellschaftlich akzeptierten Skript entspricht, (b) wir haben das Gefühl, dass andere mitbekommen, dass wir gegen das Skript verstoßen haben. Die meisten Menschen tendieren von Natur aus dazu, Regeln und Normen, die in der Gesellschaft, in der sie leben, gelten, zu befolgen. Wenn es ihnen also so vorkommt, als ob sie der gesellschaftlichen Erwartungen nicht gerecht werden, fühlen sie sich peinlich berührt.“
Natürlich haben Menschen etwas unterschiedliche Ansichten darüber, was zu den sozialen Skripten gehört und welche Verhaltensweisen gegen sie verstoßen. Während es also harmlos erscheinen mag, dir die Zeit zu nehmen, dein Wechselgeld ordnungsgemäß zu verstauen, würden viele Menschen es als soziales Skript betrachten, „Menschen in einer Warteschlange nicht aufzuhalten“. Das bedeutet, dass sich das „richtige“ Verhalten für die soziale Situation „in der Schlange stehen“ dadurch auszeichnet, „sich zu beeilen, um die anderen Personen hinter einem nicht unnötig warten zu lassen“. „Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie Leute in einer Warteschlange aufhalten, wenn sie sich zusätzliche fünf Sekunden Zeit nehmen, um ihr Kleingeld wegzulegen“, erklärt Dr. Feinberg. Selbst wenn niemand hinter dir steht, wie es bei meinem spontanen Sonnenblumenkauf der Fall war, hast du vielleicht das Gefühl, dass du den Kassierer oder die Kassiererin aufhältst. Möglicherweise ist dieses Skript auch einfach so tief in dir verwurzelt, dass du den Druck verspürst, dich in jeder Situation dementsprechend zu verhalten.
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Die gleiche Erklärung lässt sich auf viele andere kleine Dinge, die einem persönlich peinlich sind, anwenden – sogar auf das unangenehme Gefühl, das ich habe, wenn ich zu joggen beginne: Plötzlich mit dem Laufen zu anzufangen, verstößt gegen das soziale Skript, das für das Gehen auf einem öffentlichen Bürgersteig gilt. Ebenso zeichnet sich das soziale Skript für den Lebensmitteleinkauf dadurch aus, Waren zu kaufen, und daher ist es normal, dich zu schämen, wenn du den Laden mit leeren Händen verlässt. Dem sozialen Skript für den Aufenthalt in einem ruhigen Raum nach solltest du nicht stören, weshalb es peinlich ist, wenn du auf einmal einen lang anhaltenden Hustenanfall hast. Dem Skript für das Vorbeigehen an einem oder einer Bekannten zufolge solltest du die Person in Frage begrüßen. Das funktioniert aber nicht, wenn du einen langen Flur entlang auf jemanden zugehst, den du kennst, und nicht weiß, ob und wann du „hallo“ sagen sollst.
Dr. Feinberg sagt, dass in Situationen wie dem Öffnen von Geschenken vor einer Menschenmenge zwei unterschiedliche Dinge zur gleichen Zeit von dir erwartet werden: Du sollst du die Geschenke öffnen und deine Dankbarkeit zu zeigen und es vermeiden, zu lange im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Das könnte die Befangenheit mancher Menschen in Zusammenhang mit dieser Tradition erklären. „Ich glaube nicht, dass sich jede Person dabei peinlich berührt fühlt. Das hängt wahrscheinlich davon ab, wie sehr sich der oder die Einzelne auf das eine oder andere Skript konzentriert“, meint er.
Natürlich lässt sich die ganze Idee in Zusammenhang mit sozialen Skripten in Frage stellen, wenn wir genau untersuchen, warum uns bestimmte, sehr menschliche Erfahrungen peinlich sind. Wer hat diese Dinge beschlossen, und wer zwingt die gesamte Menschheit, sich daran zu halten? Ich finde Höflichkeit sehr wichtig. Die Tatsache, dass ich mich aber anscheinend so sehr dazu verpflichtet fühle, eine eher unausgesprochene Regel einzuhalten, dass ich ins Schwitzen gerate, nur weil der Lebensmittelladen nicht die gewünschte Senfsorte im Angebot hat, fühlt sich an, als ob ich einer Gehirnwäsche unterzogen worden wäre. Das schränkt mich ein, obwohl ich mich dadurch wie ein höflicher Mensch fühle.
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Dr. Feinbergs Ansicht ist etwas rosiger. „Der wichtigste Punkt bei unseren Untersuchungen ist, dass Verlegenheit – auch wenn sie unangenehm ist – tatsächlich eine sehr wichtige Funktion hat“, sagt er. „Sie signalisiert anderen, dass einer Person soziale Ordnung am Herzen liegt, und das kann dazu führen, dass sie ihr mehr vertrauen.“ Und wenn ich darüber nachdenke, wäre ich vielleicht auch ein wenig misstrauisch gegenüber jemandem, der sich in der Kassenschlange so viel Zeit lässt, dass die anderen warten müssen.
Wenn dir diese Situationen nicht peinlich ist, bedeutet das nicht, dass du ein schlechter Mensch oder unhöflich bist, sondern nur, dass du ein anderes Verständnis von sozialen Skripten, der Situation, in der du dich befindest, oder den Regeln und Normen der Gesellschaft, in der du lebst, hast. Die sozialen Skripte, die ich beschrieben habe, sind spezifisch für die USA, wo ich lebe; woanders herrschen andere Umgangsformen und Überzeugungen.
So sehr ich mir auch manchmal wünsche, dass mich solche Situationen kalt lassen würden, so ist es doch eine Erleichterung, dass das Einzige, was wir dagegen tun können, darin besteht, sie als eine der Macken zu akzeptieren, die es mit sich bringt, ein Mensch zu sein, dem es wichtig ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Es tröstet mich etwas, zu wissen, dass niemand von uns fehlerfrei ist. In gewisser Weise ist es sogar eine gute Sache, dass wir uns schämen, wenn wir gegen soziale Regeln verstoßen. Das bedeutet, dass uns die Leute um uns herum wichtig sind und das, was sie von uns halten. Schließlich tun wir alle das, was im Rahmen des Möglichen ist und versuchen dabei, niemandem auf die Füße zu treten – vor allem in dem Moment, in dem wir aufhören zu gehen und anfangen zu joggen.

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