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Wieso sich Frauen fürs Betrunkensein mehr schämen als Männer

Foto: Poppy Thorpe.
Triggerwarnung: Dieser Artikel erwähnt sexuellen Missbrauch.
„Als Frau wird dir schon früh beigebracht, immer schön freundlich und respektvoll zu sein. Dich auf bestimmte Art zu benehmen, genauso viel zuzuhören, wie du sprichst, und in Gesprächen eine bestimmte Rolle einzunehmen. Alkohol verträgt sich aber nicht mit diesen Regeln. Er bricht all diese Normen.“
Emma Tilley ist eine 25-jährige Studentin und Eventmanagerin. Wir unterhalten uns gerade über eine neue Studie der Global Drug Survey, die herausfand, dass es rund ein Drittel aller Frauen im Nachhinein mehr „bereuen“ als Männer, betrunken gewesen zu sein. 39 Prozent der weiblichen Befragten gaben an, einen betrunkenen Abend im letzten Jahr zu bereuen – verglichen mit 29 Prozent der Männer. Die Frauen äußerten auch um 39 Prozent mehr Reue wegen eines sexuellen Kontakts unter Alkoholeinfluss, und 17 Prozent mehr geistiges Unwohlsein am nächsten Tag.
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„Die Schuldgefühle sind das Schlimmste“, sagt Emma über diese Kater-Erfahrungen. „Ich mache mich selbst für jede betrunkene Interaktion verantwortlich. Ich rede mir selbst die Schuld ein, weil ich glaube, dass andere das von mir erwarten.“
Eine Studie von 2016, veröffentlicht in der Online-Fachzeitschrift BMJ Open, ergab, dass Frauen weltweit inzwischen fast so viel trinken wie Männer. Wieso sind sie dann aber nach einer feucht-fröhlichen Nacht so viel anfälliger für Schuldgefühle, Scham und Reue?
Mitte des letzten Jahrhunderts sah die Verteilung des Alkoholkonsums zwischen den Geschlechtern noch völlig anders aus. Aus derselben Studie geht hervor, dass in der Generation, die zwischen 1891 und 1910 geboren wurde, noch doppelt so viele Männer wie Frauen überhaupt Alkohol tranken. Erst in den 1990ern – als Alkoholprodukte, Orte zum Trinken und die Trinkkultur laut dem Institute of Alcohol Studies langsam „deutlich feminisiert wurden“ – holten die Frauen erst so richtig auf. 
„Ich bin in den 90ern und 2000ern aufgewachsen. Damals war es ein Teil der Frauenkultur, genauso viel wie die Männer zu trinken“, meint die britische Comedienne Eleanor Conway, die in ihrer Debüt-Show Walk of Shame von ihren exzessiven Party-Jahren erzählte. Inzwischen ist sie aber seit fast sieben Jahren nüchtern – und hat einen anderen Blick auf Alkohol.

Wir verurteilen betrunkene Frauen. Ein Mann, der viel trinkt, gilt aber als ‚Lebemann‘ – wir empfinden sein Trinken als seine Art, das Leben voll auszukosten. Prinzipiell lassen wir Männern viel mehr durchgehen als Frauen.

Ann Dowsett Johnston
„Wenn ich betrunken war, machte ich oft verrückte, gefährliche Sachen. Das alles entsprang aber einer großen Unsicherheit. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner eigenen Haut und sehnte mich nach Nähe“, sagt sie. „Die Reue und Scham am nächsten Morgen nach einem Blackout war dann aber wie eine Strafe dafür, dass ich mir doch eigentlich nur eine Lösung für meine innere Unruhe gewünscht hatte. Wie merkwürdig ich mich während eines Blackouts manchmal verhielt, stand total im Kontrast zu den Emotionen dahinter: Ich hatte ja nur getrunken, um meine Ängste zu stillen.“
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Ann Dowsett Johnston ist die Autorin von Drink: The Intimate Relationship Between Women and Alcohol. Via Zoom erzählt sie mir, dass „wir, die westliche Kultur, Frauen immer Schuldgefühle einreden. Wir verurteilen betrunkene Frauen. Ein Mann, der viel trinkt, gilt aber als ‚Lebemann‘ – wir empfinden sein Trinken als seine Art, das Leben voll auszukosten. Prinzipiell lassen wir Männern viel mehr durchgehen als Frauen.“
Eine Studie der University of Sussex von 2011 ergab, dass diese gender-abhängige Doppelmoral – mit der sich Frauen ohnehin schon in fast jedem anderen Lebensbereich herumschlagen müssen – auch beim Alkoholkonsum eine Rolle spielt. In den Gesprächen mit Student:innen fand die Studie heraus, dass Eigenschaften wie „Betrunkensein in der Öffentlichkeit“ als „maskuliner“ empfunden wurden und dass Teilnehmende ihren Trinkstil oft an ihre Gender-Identität anpassten. In diesem Kontext auch interessant: Laut einer Vielzahl wissenschaftlicher Essays konzentrierten sich solche Studien zum Alkoholverhalten vor den 1990ern fast ausschließlich auf Männer. 
Vielleicht liegt es daran, welches Gefühl unsere Gesellschaft Frauen vermittelt, wenn sie zu viel trinken, dass sie sich für eine Alkoholsucht deutlich seltener als Männer Hilfe von außen holen, zum Beispiel durch einen begleiteten Entzug. „Frauen lassen sich nur sehr schwer dazu bewegen, sich von ihren Verantwortungen zu lösen – das gilt vor allem für Mütter. Das liegt an unseren kulturellen Vorstellungen der Rollen, die Frauen spielen ‚sollten‘“, ergänzt Ann.
„Frauen trinken meist aus anderen Gründen [als Männer], wie zum Beispiel aufgrund von Stress, Burnout oder Unruhe“, sagt sie. „Männer trinken eher, weil sie mehr Spaß haben wollen.“ Letzteres bestätigt auch Dr. Emma Davies, die die Studie der Global Drug Survey leitete und der Meinung ist, dass der „Männerrudel“-Stereotyp Männer oft davor schützt, ihr betrunkenes Verhalten im Nachhinein zu bereuen. 
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„Eine unserer Studien ergab, dass Männer sogar eher stolz auf ihr peinliches Verhalten sind. Frauen hingegen hinterfragen im Nachhinein oft ihre Sicherheit während betrunkener Stunden“, erklärt Davies. „Sie sind sich ihrer eigenen Verwundbarkeit plötzlich sehr bewusst, wenn sie am nächsten Morgen aufwachen und darüber nachdenken, was ihnen alles hätte passieren können“, fährt sie fort. „Fast Frau kann so eine Story erzählen – von einer Freundin, der was in den Drink gemischt wurde, die nach Hause verfolgt oder im Club belästigt wurde.“

Uns wird schon in jungen Jahren eingeredet, wir müssten immer vorsichtig sein – und machen uns dann doch selbst dafür verantwortlich, wenn etwas passiert, auch wenn es gar nicht unsere Schuld war.

Dr. Emma Davies
Leider sind diese Sorgen durchaus berechtigt. Laut einer Statistik von 2021 gaben 39 Prozent aller Vergewaltigungsopfer an, zum Zeitpunkt der Tat unter Alkoholeinfluss gestanden zu haben; der Prozentsatz für die Täter:innen war genau derselbe. Trotzdem müssen sich oft nur die Opfer Fragen dazu anhören, ob sie vielleicht „zu viel getrunken“ hätten. Ist es da wirklich ein Wunder, dass sich der Großteil aller Vergewaltigungsopfer laut einer Studie von 2015 selbst die Schuld für die Tat gibt?
Wir könnten demnach die Theorie aufstellen, dass die Schuld-, Schamgefühle und Reue, die Frauen im Zusammenhang mit zu viel Alkoholkonsum empfinden, größtenteils Symptome der Handlungen schrecklicher Männer sind. „Frauen geben sich selbst die Schuld und glauben, es wäre nie etwas passiert, wenn sie nicht betrunken gewesen wären“, meint Davies. „Uns wird schon in jungen Jahren eingeredet, wir müssten immer vorsichtig sein – und machen uns dann doch selbst dafür verantwortlich, wenn etwas passiert, auch wenn es gar nicht unsere Schuld war. Frauen haben auch das Recht, betrunken zu sein!“
Wie sieht also die Zukunft für Frauen im Zusammenhang mit Alkohol aus? Vielleicht werden wir dahingehend weniger Grund zur Sorge haben, da die Generation Z (die heute 18 bis 24 Jahre alt sind) weniger Alkohol trinkt als ältere Gruppen, in Deutschland sogar noch weniger als in anderen europäischen Ländern. Ann empfiehlt ganz pragmatisch, die eigenen Drinks immer mitzuzählen und den Konsum zu mäßigen. Letztlich hilft uns gegen die Scham und Reue der Stigmatisierung von betrunkenen Frauen nur die Aufklärung – vor allem die von Männern.
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