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Mein Therapeut empfahl mir, BDSM auszuprobieren

Photo: Erika Bowes.
Triggerwarnung: In diesem Artikel wird Suizid erwähnt.
Mein Leben war bestimmt von extremen Stimmungsschwankungen, chronischen Emotionen der Leere, turbulenten Beziehungen, obsessiver Liebe und wiederkehrenden Suizidgedanken (manchmal als Reaktion auf die kleinsten Unannehmlichkeiten). Ich erfülle viele der Kriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und mehrere Therapeut:innen haben unabhängig voneinander darauf hingewiesen, dass ich diese Störung haben könnte. Ich neige zur Verdrängung, bis eine große Lebensveränderung – meistens ein unvermeidliches Beziehungsende und eine explosive Trennung – es unmöglich macht, es zu ignorieren.
Ich könnte tagelang über die verschiedenen BPS-Merkmale sprechen, die speziell auf mich zutreffen, aber was BPS wirklich ausmacht, sind die schwankenden, intensiven Stimmungen – überwältigende Emotionen, die dir das Gefühl geben, von einer Krise in die nächste zu stolpern, ohne dass du eine Rüstung hast, die dich schützt. Das bringt dich dazu, verzweifelt nach einem Ventil zu suchen, um die alles verschlingenden Gefühle zu verarbeiten. Das bedeutet, dass die Krankheit Hand in Hand mit selbstzerstörerischem und gefährlichem Verhalten geht, wie Selbstverletzung, Drogenkonsum, leichtsinnigem Geldausgeben und Glücksspielen.
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Mit zunehmendem Alter habe ich an meinen Bewältigungsmechanismen gearbeitet, um die emotionalen Unwetter zu überstehen, die scheinbar aus dem Nichts in mir aufsteigen. Früher schränkte ich meine Ernährung ein und verfiel in Binge-Eating- und Purging-Verhalten, und ich habe mich auf Alkohol verlassen, um die fast ständigen aufdringlichen Gedanken zu betäuben. Aber ich habe gemerkt, dass das auf lange Sicht alles nur noch schlimmer macht. In den letzten Jahren habe ich versucht, so nah wie möglich an einer ‚stillen‘ oder ‚high functioning‘ BPS zu bleiben: Ich nehme SSRI-Präparate, um die Tiefs abzuschwächen, gehe zur Gesprächstherapie, um meine wechselnden Stimmungen und Gedanken zu verstehen, konzentriere mich darauf, gut zu essen und zu schlafen, um meine Stimmung zu regulieren, und versuche, meine Erwartungen an Freundschaften und Beziehungen zu regulieren. Frustrierenderweise hat sich mein Zustand dadurch aber nicht verbessert. Jetzt habe ich oft das Gefühl, dass ich die überwältigenden Gefühle einfach aussitzen muss, anstatt etwas dagegen zu tun.

Wie kann ich meine ungesunden Bewältigungsmechanismen gegen gesündere austauschen, die mir eine gewisse Erleichterung von meinen Gefühlen verschaffen, anstatt mich zu zwingen, in meinem Schmerz zu baden und nichts zu tun?

Vor vielen Monaten widmete ich eine Therapiesitzung der Beschreibung der letzten Einzelheiten einer destruktiven, co-abhängigen Beziehung, in der ich mich in eine Rolle extremer Unterwürfigkeit begeben hatte. In diesem Moment schlug mein Therapeut etwas vor, das mich überraschte: Hatte ich jemals versucht, diese unterwürfige Neigung durch BDSM zu befriedigen? Vermeintlich ungewöhnliche sexuelle Vorlieben waren mir nicht neu, aber den Gedanken, die entmenschlichenden Qualen meiner Beziehung gegen physischen Schmerz und ritualisierte Unterwerfung einzutauschen, war mir noch nie in den Sinn gekommen. Vielleicht könnte das funktionieren? Vielleicht war meine Herangehensweise an Beziehungen – oft ignorierte ich red flags und verliebte mich Hals über Kopf in emotional nicht verfügbare Menschen – auch eine Form der Selbstsabotage: ein schädliches Verhalten, das ich neben meiner Essstörung nicht abstellen konnte.
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Wie sich herausstellt, findest du, wenn du im Internet nach „BDSM“ und „Borderline“ suchst, viele persönliche Berichte von unterwürfigen Menschen mit Borderline-Syndrom und sogar Forschungsergebnisse, die ein stärkeres Interesse an Sadomasochismus bei Frauen mit BPS belegen. Das wird nicht neutral dargestellt – vielmehr wird Sadomasochismus in der Forschung zu diesem Thema als „Störung“ bezeichnet, obwohl er im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (dem Handbuch, das von Psychiater:innen weltweit zur Klassifizierung von psychischen Erkrankungen verwendet wird) nicht mehr als psychische Krankheit eingestuft wird. Aber unabhängig davon, ob ein Interesse an BDSM als BPS-Stereotyp angesehen wird oder nicht, war ich plötzlich auf einem neuen Gedankengang: Wie kann ich meine ungesunden Bewältigungsmechanismen gegen gesündere austauschen, die mir eine gewisse Erleichterung von meinen Gefühlen verschaffen, anstatt mich zu zwingen, in meinem Schmerz zu baden und nichts zu tun?
Lustigerweise hatte mich meine hektische Google-Recherche zu der Art von Problemlösung geführt, die im Mittelpunkt der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) steht – einer Therapieform, die sich an Menschen mit BPS sowie an Menschen mit Impulskontroll- und Emotionsregulationsproblemen richtet. Ich interessiere mich schon seit einiger Zeit für die DBT: Ein:e Ex-Partner:in von mir kämpfte ebenfalls mit Borderline-Zügen und hatte eine DBT-Therapie durchlaufen. Durch sie:ihn erfuhr ich viele Dinge, die mir halfen, mit dieser Störung besser umzugehen – von der Bedeutung von Schlaf und Bewegung bis hin zum Bemühen, den Grund für eine bestimmte Emotion herauszufinden, bevor ich auf sie reagiere. Ich habe mich schon immer für dieses Thema interessiert, aber der Prozess, eine offizielle BPS-Diagnose zu erhalten, um eine offizielle Behandlung in Anspruch nehmen zu können, erschien mir überwältigend. Deshalb habe ich die Methoden der DBT eine Zeit lang in Mikrodosen eingenommen, indem ich mich regelmäßig in Internetforen und Selbsthilfeartikeln für Borderline-Patient:innen informierte, und auf dem aufgebaut, was mein:e Ex mir beigebracht hatte, während ich mich zu Hause durch dicke DBT-Arbeitsbücher arbeitete.
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Aber was wäre, wenn es einen Weg gäbe, diese Lehren aus den Büchern in das echte Leben zu übertragen? Was mir an dem Vorschlag meines Therapeuten, BDSM auszuprobieren, am meisten ins Auge stach, war die Tatsache, dass es einen rationalen Grund dafür gab. Es ging nicht um die „sexuelle Impulsivität“, die unter den Diagnosekriterien der BPS aufgeführt ist. Vielmehr war es ein durchdachter Weg, mit einer problematischen Neigung umzugehen. Ein wichtiger Teil der DBT besteht darin, die eigene Denkweise zu ändern, sich mit den eigenen Emotionen auseinanderzusetzen und zu verstehen und herauszufinden, wie man sich produktiv selbst beruhigen kann. Während manche Menschen sich mit einem vertrauten Film oder einem warmen Bad selbst beruhigen, könnte dann ein Prügelspiel – wenn es absichtlich und nicht als erzwungener Balsam für eine klaffende emotionale Wunde eingesetzt wird – für andere eine Form der Selbstberuhigung sein?  

Als mein Körper unter ihren Berührungen nachgab, schlug sie mir mit der anderen Hand kurz mit der offenen Handfläche auf den Kopf. Ich zitterte von der Wucht der Schläge und dachte an nichts anderes als an den nächsten Schlag – endlich hatte ich eine Pause von der inneren Stimme, die jede meiner Bewegungen kritisierte.

Nachdem ich viele Monate darüber nachgedacht hatte, beschloss ich, die Idee in die Tat umzusetzen. Nach einer ausführlichen Recherche über meine Ex-Freund:innen, Tinder-Matches und weiteren Bekanntschaften grenzte ich meine Kontakte auf die eine Person ein, der ich diese Aufgabe anvertrauen konnte. Ich wandte mich an eine Ex, von der ich mich untypischerweise in gutem Einvernehmen getrennt hatte: Jemand, von der ich wusste, dass sie viel Erfahrung mit BDSM hatte, der ihre sexuelle Gesundheit wichtig war und die schon mehrere gesunde, einvernehmliche Beziehungen mit unterwürfigen Partner:innen gehabt hatte. Kurz gesagt: eine Person, der ich vertrauen konnte und von der ich wusste, dass sie mich auf dieser Reise schützen könnte.
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Ein paar Tage und viele SMS übers Grenzensetzen später starrte ich auf die weißen Laken auf ihrem Bett. Es begann damit, dass sie mir mit abwechselnder Stärke und Druck mit den Nägeln über den Rücken und die Beine fuhr. Bald war mein Körper mit fiesen Kratzern übersät, die auf meiner Haut brannten und mich zusammenzucken ließen. Als sie fragte, ob wir noch etwas anderes ausprobieren könnten, nickte ich und spürte, wie sie mein Haar von meiner Kopfhaut zurückkämmte und es in ihrer Faust zu einem Knäuel festhielt. Als mein Körper unter ihren Berührungen nachgab, schlug sie mir mit der anderen Hand kurz mit der offenen Handfläche auf den Kopf. Ich zitterte von der Wucht der Schläge und dachte an nichts anderes als an den nächsten Schlag – endlich hatte ich eine Pause von der inneren Stimme, die jede meiner Bewegungen kritisierte. Mein Kopf fühlte sich völlig leer an. Während diese ungewohnten Empfindungen meinen Körper durchströmten, fühlte ich mich seltsam geerdet. Alles, was zählte, war der Augenblick.
Würde ich dieses Erlebnis weiterempfehlen? Nun, niemand wird BDSM empfehlen, wenn eine formellere Behandlung möglich ist. Dennoch war meine Erfahrung positiv und sogar wirkungsvoll. Ich entdeckte, dass BDSM ein Mittel zur Selbstberuhigung und Katharsis sein kann. Etwas, das ich in meinen eigenen lockeren, autodidaktischen DBT-Plan integrieren konnte. Auch wenn es nicht für jede:n geeignet ist, bietet die Eindeutigkeit aus Regeln und Peitschen eine notwendige Abwechslung zu den verworrenen, überwältigenden Gefühlen, die mein tägliches Leben zu einem schmerzhaften Fragezeichen machen.
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Wenn du selbst an einer Angststörung oder Depression leidest oder aber eine Person kennst, die Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.
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