Hättest du mich vor einem Jahr gefragt, was auf meiner To-do-Liste für heute stehen würde, wäre meine Antwort ungefähr so gewesen: E-Mails beantworten, Meetings, Termine und mir vielleicht etwas Zeit für Sport nehmen. Nie hätte ich geglaubt, dass Salaah, also meine täglichen Gebete, ganz oben auf der Liste stehen würden, geschweige denn, dass sie zu der Sache werden, die meinen Tag jetzt bestimmt, alhamdulillah. Doch während dieser globalen Pandemie habe ich festgestellt, wie wichtig Beten für mein Wohlbefinden ist.
Beten ist für viele gläubige Menschen ein Teil des Lebens, aber es würde mich nicht wundern, wenn während COVID-19 weltweit mehr Gebete gesprochen werden. Für diejenigen von uns, die sicher zu Hause sind, ist es leicht, sich von dem Gefühl überwältigt zu fühlen, dass diese neue Normalität niemals enden wird. Das ist ein natürliches und menschliches Gefühl, auch wenn es mit dem Privileg der Sicherheit unserer eigenen vier Wänden entspringt.
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Als Freelancerin arbeitete ich theoretisch die ganze Zeit von zu Hause aus. Aber die Wirklichkeit sah meist anders aus: Oft ging ich in Büros, Co-working-Spaces, Cafés oder Bibliotheken. Fünfmal am Tag zu beten, war deswegen nicht immer möglich – auch wenn die einzelnen Gebete nur fünf bis 15 Minuten lang sind, was in etwa einer Stunde Yoga entspricht. Und die Gebete waren auch nicht immer die höchste Priorität in meinem Alltag. Wenn ich zur Gebetszeit bei einem Meeting anwesend sein musste, dann betete ich einfach danach. Immerhin wollte ich meine Auftraggeber*innen nicht warten lassen. Für Muslim*innen wie mich bringt das Home Office und das Social Distancing also einen unerwarteten Vorteil mit sich: Wir können endlich die eine Sache machen, die in unserem modernen Arbeitsleben kaum Platz hat.
„Vor Corona habe ich versucht auf der Arbeit zu beten, aber unser Gebetsraum ist im Keller. Und weil ich nicht drei- bis viermal am Tag einfach verschwinden konnte, habe ich viele Gebete verpasst“, sagt die Journalistin Faima Bakar. „Doch jetzt, wo wir in der Selbst-Isolation sind, ist mein Zimmer zu meinem Büro geworden. Hier habe ich meinen Gebetsteppich und kann einfach schnell beten, wenn es an der Zeit ist.“
Früher hatte ich das Gefühl, meine Gebete waren zeitlich begrenzt – als ob mein Gespräch mit Gott nur fünf Minuten dauern könnte, bevor ich wieder an meinen Schreibtisch eilen musste. Jetzt kann ich mir Zeit nehmen. Das lässt ein kosmopolitisches Leben oft nicht zu.
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Jetzt ist es nicht nur einfacher geworden, einen sauberen Ort zum Beten zu finden, sondern das Gebet selbst ist zu einem Teil meiner Routine geworden und die hilft mir, das eigene Wohlbefinden aufrechtzuerhalten. In einem Artikel in der The Professional Medical Journal, erörtert Dr. Misbah Ghous die physischen und psychischen Vorteile von Salaah. Laut Dr. Ghous werden durch die verschiedenen Körperhaltungen in der Salaah (Stehen, Verbeugung, Niederknien und Sitzen) verschiedene Körperteile gedehnt, was den Geist entspannt. Ähnlich wie beim Yoga besteht ein großer Teil der Salaah darin, die verschiedenen Phasen, die wir im Leben durchmachen, widerzuspiegeln. Wenn wir uns zurücklehnen und Gott preisen, symbolisiert das, wir sind in der Lage, die Dunkelheit zu überstehen. Wir erinnern uns daran, dass alles vergeht – auch die schlechten Phasen. Durch diese kurzen und einfachen körperlichen und mentalen Übungen, helfen wir uns, den Tag mit mehr einer positiveren Einstellung zu bewältigen. Außerdem regen sie sowohl zur Selbsterkenntnis als auch zum Blick über den Tellerrand an.
„An den Tagen, an denen ich nicht bete, ist es schwieriger für mich, einen Grund zu finden, um aus dem Bett zu kommen oder sogar pünktlich Mittag- oder Abendessen zu kochen“, sagt Fahima Jilani, die Gründerin von Mosa Mosa, einer bangladeschi Essens- und Kulturplattform. „Ich bin nicht den ganzen Tag über im gleichen Maße motiviert und kann auch schnell mal ein paar Stunden auf dem Sofa verschwenden. Durch das Beten komme ich aus dem Trott heraus und ich fühle mich geistlich leichter und präsenter. Ich kann mich im Laufe des Tages mehr auf meine Aufgaben konzentrieren und fühle mich allgemein produktiver. Ich fühle mich nicht einmal gelangweilt, denn das Beten hilft mir, langsamer zu werden und jeden Augenblick zu erleben.“
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Für manche mag es übertrieben sein, mehrmals am Tag zu beten (obwohl es für die fast zwei Milliarden Muslime in der Welt die Norm ist). Doch mit zunehmendem Alter – und besonders jetzt, da unsere Welt sowieso auf den Kopf gestellt ist – habe ich verstanden, warum Menschen diese fünf Minuten alle paar Stunden brauchen. Sie geben uns die Möglichkeit, unser inneres und äußeres Selbst zu synchronisieren. Und sie helfen uns, unsere Absichten für den Tag immer wieder zu überdenken. Duas (Beschwörungen) und Gebete sind uralte Maßnahmen der Selfcare.
„Früher dachte ich, dass das Gebet eine lästige Pflicht und einer der schwierigsten Aspekte des Islam sei. Aber jetzt, da ich älter bin, sehe ich es als eine erdende Erfahrung. Es erinnert mich daran, wer ich bin, welche Werte ich vertrete und wofür ich am meisten dankbar bin“, sagt Diyora Shadijanova, eine Multimedia-Journalistin und Moderatorin des Podcasts Your Broccoli Weekly. „Beten zwingt mich, auch an wirklich stressigen oder arbeitsreichen Tagen Pausen einzulegen. Es ist im Grunde wie eine Meditation zur Achtsamkeit.“
Ramadan hat jetzt begonnen und ich bin mir sicher, diese Fastenzeit wird in die Geschichte eingehen. Die Kaaba ist leer und niemand geht auf eine religiöse Pilgerfahrt, nimmt an den nächtlichen Gebeten in der örtlichen Moschee teil oder kann den Glauben mit anderen zusammen praktizieren – sei es nun durch ein gemeinsames Abendessen mit den Nachbarn oder das Sammeln von Spenden für die Armen. Doch komischerweise könnte dieser zu Hause verbrachte Ramadan genau das sein, was wir alle brauchen, inschallah.
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„Ich finde, während des Ramadans geht alles viel leichter vonstatten“, sagt Shadijanova. „Meine Psyche ist in einer viel besseren Verfassung und mein Gehirn ist nicht mit so vielen irrelevanten Gedanken überladen, weil ich wahrscheinlich einfach keine Energie dafür habe, über unwichtige Dinge nachzudenken!“
„Ramadan während der Selbst-Isolation wird sehr interessant sein, denn für mich geht es in der Fastenzeit darum, alles zu verlangsamen und auf eine sehr bescheidene Art sich auf die wichtigsten Dinge im Leben zu konzentrieren. Aber wir haben bereits viele Teile unseres Lebens wegen Corona verlangsamt – ich bin gespannt, ob es möglich ist, noch mehr zu verlangsamen.“
Für andere, die vielleicht in den vergangenen Jahren Schwierigkeiten hatten zu fasten, weil sie täglich zur Arbeit pendeln mussten und sich gleichzeitig um ihre Familie kümmern mussten, kann Ramadan diesmal leichter sein. „Ich denke, dieser Ramadan ist so viel besser, weil man sich in dieser Zeit wirklich auf den Islam konzentrieren, sich die Zeit nehmen kann, zu beten, den Koran zu lesen und die weltlichen Freuden hinter sich zu lassen“, sagt Jilani. „Dass wir zu Hause bleiben dürfen, ist eigentlich ein verborgener Segen … auch, wenn wir nicht am gemeinsamen Iftar teilnehmen können. Stattdessen dürfen wir erfahren, was wirklich zählt, inshallah.“
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