Kanarienvögel hören jeden Herbst auf zu singen. Nachdem sie sich gefedert haben, verlieren sie alle Energie fürs Musizieren und konzentrieren sich ganz darauf, ihre Federn nachwachsen zu lassen. Wenn sie sich dann wieder in ihr Wintergefieder kuscheln können, fangen sie erneut an zu singen – Jahr für Jahr für Jahr für Jahr.
2021 hatte ich meine eigene Phase der Stille und des Neuanfangs. Die begann mit einem Versehen: Gegen Weihnachten 2020 verlor ich meine AirPods. Bei einem meiner täglichen Spaziergänge rutschten sie mir irgendwo aus der Tasche, und so war ich meinem superlauten Elternhaus mitten im Lockdown schutzlos ausgeliefert, ohne mich – wie sonst – in irgendein Album flüchten zu können. Oh, wie viel Macht diese kleinen weißen In-Ears doch waren, und wie verloren ich mich ohne sie fühlte! Meine akustische Rüstung gegen die Außenwelt war plötzlich weg. Ich hatte sie vorher quasi überall getragen, mich bei jedem (seltenen) Joggen und (häufigen) Nickerchen von ihnen beruhigen lassen – ob nun mit Bob Dylan, Megan Thee Stallion, Bach oder Little Mix.
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Während der ersten Tage ohne AirPods fühlte ich mich trotzdem irgendwie befreit – und hörte hin. Der Straßenverkehr! Mein schnarchender Freund! Der Klang des frisch wiedererlernten Vogelgesangs im Winter! Die Realität kam mir plötzlich viel schärfer vor, als hätte man mir eine Brille aufgesetzt.
Überraschenderweise gefiel mir das ziemlich gut. Aus meinen musikfreien Tagen wurde eine ganze Woche, und während sich meine Familie im Dry January im Alkoholverzicht übte, wurde mir klar, dass ich die Tage ohne Musik zählte. Es wurde zur persönlichen Challenge – ein „Quiet January“, sozusagen. Ich wollte testen, wie lange ich das aushalten würde.
Aus Januar wurde Februar, und ich war immer noch musikfrei unterwegs. Klar fehlten mir der emotionale Support, den mir Emmy the Great sonst lieferte, und mein täglicher Selbstbewusstseins-Boost von Nikki Minaj, und der aggressive Eskapismus von System Of A Down. Aber hey, ich hatte ja schon angefangen – warum sollte ich das also nicht weiter durchziehen?
„Aber mal im Ernst: Warum würdest du das durchziehen?“, fragte mich meine Chefredakteurin, als ich ihr diesen Artikel vorschlug. „Warum würdest du Musik aufgeben, ein ganzes Jahr lang, ohne guten Grund?“ Gute Frage. Im Gegensatz zum Alkoholverzicht hat der Musikverzicht keinen eindeutigen gesundheitlichen oder Lifestyle-Vorteil, soweit ich weiß. Und laut der ganzen Essays, die ich dazu im vergangenen Jahr gelesen habe, hat das Hören von Musik tatsächlich nur positive Einflüsse – auf die Konzentration, auf die sportliche Performance und sogar auf die geistige Gesundheit; Musik kann Ängste und Unruhen besänftigen.
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Warum machte ich das also? Ich sehe das so: Mein „Warum“ hat etwas mit Kontrolle zu tun – genauer gesagt damit, die Kontrolle zurückzugewinnen. Im Januar 2021 überrannte die Delta-Coronavariante gerade den Globus, mir wurde immer mehr Arbeit aufgetischt und meine Beziehung fühlte sich wie eine überspannte Gitarrensaite an, die kurz vorm Zerreißen war. Die Musik aufzugeben, war für mich eine kleine, vielleicht sinnlose, vermutlich dumme Sache – aber zumindest hatte ich die Macht darüber. Ich nutzte Musik früher, um mich abzulenken und meinem Leben zu entfliehen. Jetzt war es an der Zeit, einfach mal still dazusitzen und all das zu konfrontieren, wovor ich da eigentlich immer geflüchtet war.
Natürlich konnte ich der Musik nicht komplett entkommen – zum Beispiel auf Social Media (obwohl ich mich damit arrangierte, ohne Ton zu scrollen), oder über die Kopfhörer anderer Leute, neben denen ich in der Bahn saß und die ich heimlich „belauschte“. Mir ging es aber darum, nicht aktiv Musik zu hören. Das heißt, mich nicht mit einem Album hinzulegen oder beim Kochen irgendwas anzumachen. Sprich: nichts zu konsumieren, was ich über die unvermeidliche Osmose in meinem Umfeld ohnehin abbekam.
Zu Beginn des Frühlings ging es dann mit dem Vermissen so richtig los, wie wenn du deine:n beste:n Freund:in eine Weile nicht gesehen hast. Ich lud mir Die Sims runter und ließ meine Sims alle richtig gut Klavier spielen.
Der Sommer bescherte uns dann wärmeres Wetter und ein fast wieder normales Leben, und ich freundete mich endlich so richtig mit meinem musikfreien Alltag an. Beim Kochen ersetzte ich meinen Jazz gegen Nachrichten; anstatt mich von 90er-Playlists beruhigen zu lassen, hörte ich Podcasts. Außerdem stieg ich richtig in ASMR ein und hörte den „Beat“ aus dem Klick-Klack von Acrylnägeln heraus.
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Außerdem erstellte ich mir einen eigenen Katalog aus selbst gedichteten „Songs“, die ich mir vorsang, wenn ich alleine war – oft über meinen Hund Billy (so trällerte ich zum Beispiel „His name was Billy, he was a show dog“ zur Melodie von „Copacabana“) –, die den Teil meines Hirns besänftigten, der sich nach Musik sehnte.
Das war alles schön und gut – aber nicht ganz das, was ich damit eigentlich bezweckt hatte. Ich hatte die musikalische Ablenkung einfach durch andere Ablenkungen ersetzt. Als es also langsam Herbst wurde, nahm ich mir vor, etwas Positives mit meinem stillen Alltag anzufangen, anstatt meinem Hund sinnlose Songs ins Ohr zu summen.
Wann immer ich mich also mit Musik von ernsten Gedanken abgelenkt hätte, fing ich nun an zu meditieren. Zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit, beim Wocheneinkauf oder in der Mittagspause. Das war eine klärende, beruhigende Erfahrung, die zu echter Veränderung führte. Ich nutzte diese Zeit, um mal ernsthaft über mein Leben nachzudenken und neue Prioritäten zu setzen. Also kündigte ich meinen Job, sägte eine kaputte Freundschaft ab, vertiefte eine andere und verlobte mich.
Während sich das Jahr dem Ende neigte, machte sich dann aber doch eine Panik in mir breit – über all die kulturellen Highlights, die mir vermutlich entgangen waren. Am 1. Dezember teilten alle ihre Spotify-Wrapped-Playlists, und ich war voller FOMO. Ich habe bisher weder Taylor Swifts noch Adeles neues Album gehört. Ich war nie eine große Trend-Anhängerin, aber zu Beginn von 2022 habe ich gefühlt wirklich überhaupt keine Ahnung, was so los ist.
Natürlich gab es auch Momente, in denen ich nachgegeben habe. Erst letzte Woche saßen mein Freund und ich in unserer alten Schrottkarre, auf dem Heimweg von einem winterlichen Spaziergang, als der uralte, staubige CD-Player plötzlich ansprang, nachdem wir durch ein Schlagloch gefahren waren. Aus einer völlig anderen Ära schallte also plötzlich „No Children“ von The Mountain Goats aus den Lautsprechern, und John Darnielle sang: „I hope you die, I hope we both die.“ Ich brach auf einmal in Tränen aus. Wir hörten uns den ganzen Song an und sangen uns dabei bei offenem Fenster die Seele aus dem Leib.
Abgesehen von dieser leidenschaftlichen Schlagloch-Szene habe ich es aber doch weitestgehend ein ganzes Jahr lang ohne Musik ausgehalten. Während dieser Zeit habe ich keine großen psychologischen Fragen rund um die Bedeutung des Lebens geklärt – das hatte ich aber auch gar nicht erwartet. Das Ganze ging als persönliche Challenge los, und ich habe mich wacker geschlagen und bedeutsame Veränderungen umgesetzt, die mich jetzt zu einem glücklicheren Menschen gemacht haben, als ich zu Anfang des letzten Jahres noch war. Ich bin stolz auf mich. Im Gegensatz zu den Kanarienvögeln, die gerade wohl wieder stumm sind, werde ich es aber trotzdem nie wieder machen.
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