Dank der vielen neuen Studien und Artikel bekommt das Thema „Einsamkeit unter jungen Menschen“ endlich die Aufmerksamkeit, die es verdient hat. Im Vergleich zu Personen, die 64 Jahre oder älter sind, fühlen sich 16- bis 24-Jährige drei Mal mehr einsam, wie offizielle Untersuchungen zeigen. Eine andere aktuelle Studie mit 2.000 jungen Leuten besagt, die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Krankheit (wie einer Angststörung oder Depression) sei bei einsamen Teilnehmer*innen mehr als doppelt so hoch. Und auch das Selbstverletzungs- und Suizidrisiko ist höher.
Es scheint also einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und mentaler Gesundheit zu geben – eins kann das andere bedingen. Manche halten psychische Probleme (wie soziale Ängste) davon ab, sich mit anderen Menschen zu treffen; andere entwickeln psychische Störungen, weil sie keine oder nur oberflächige Freundschaften oder Beziehungen führen.
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Die 33-jährige Michelle Lloyd arbeitet als Personalleiterin und bloggt auf You Don't Look Depressed über mentale Gesundheit. Sie leidet an einer Angststörung und Depressionen, weshalb sie seit sechs Jahren Antidepressiva nimmt. Aktuell lebt sie allein in London. Nachfolgend erzählt sie, wie es ist, mit seelischen Problemen klarkommen zu müssen, wenn du ein Leben in Einsamkeit führst.
Ich würde mich auf jeden Fall als einsam beschreiben. Ich habe mich schon immer allein gefühlt, selbst dann, wenn ich in einer Beziehung war oder viele Menschen um mich herum hatte. Um meine seelische Gesundheit steht es seit sechs Monaten auch nicht gerade gut, vor allem, weil mein Verlobter und ich vor kurzem Schluss gemacht haben (wir hätten im Juli heiraten sollen). Außerdem geht es meinem jüngeren Bruder nicht gut.
Psychische Krankheiten machen einsam
Ständig hast du das Gefühl, dich erklären zu müssen und Menschen zu sagen, warum du dich wie fühlst. Wenn das dein Gegenüber dann nicht nachvollziehen kann, fühlst du dich sehr allein – besonders, wenn du einfach nicht in Worte fassen kannst, was in dir vorgeht.
Ich habe schon, seit ich ein Teenager war, psychische Probleme. Das erste Mal darüber geredet habe ich allerdings erst mit Anfang 20, als ich zur Uni ging und die Einsamkeit zuschlug. Ich verbrachte damals sehr viel Zeit allein und hatte großes Heimweh. Ab dann wurde alles nur noch schlimmer. Jetzt lebe ich allein in London und fühle mich isolierter denn je. Es gab immer mal wieder Zeiten, in denen ich mich einsam fühlte – aber London ist eine ganz andere Hausnummer. Es ist einer der einsamsten Orte der Welt, wenn du kaum Freund*innen und keine Familie um dich herum hast. Alle leben ihr schnelllebiges, aufregendes Leben. Alle wissen, was sie machen und wo sie hinwollen. Nur ich nicht. Zumindest fühlt es sich so an. Es klingt wie ein Klischee, aber die Menschen hier sind nicht gerade freundlich. Die meisten schauen dich noch nicht mal an. In Manchester, wo ich früher mal gelebt habe, sprechen dich die Leute sogar an und wünschen dir einen guten Morgen. Wenn dir diese grundlegenden menschlichen Interaktionen fehlen, ist es noch schwieriger, mit der Einsamkeit und ängstlichen Gefühlen zu leben.
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Ich würde etwa sechs Menschen als „gute Freund*innen“ bezeichnen. Einige davon leben zwar in London, doch weil sie in anderen Stadtteilen leben, sehen wir uns leider nicht so oft. Manchmal fällt es mir schwer, jemanden zu finden, mit dem oder der ich etwas unternehmen kann – weil ich dafür durch das halbe Land fahren müsste oder weil meine Freund*innen Beziehungen oder Kinder haben. Dadurch fühle ich mich natürlich manchmal sehr allein. Auf der anderen Seite habe ich lieber wenige wirklich gute Freund*innen als sehr viele Bekanntschaften.
Einsamkeit im Büro
Ein gewöhnlicher Arbeitstag startet bei mir mit einer halben Weltreise, weil ich von meiner Wohnung in Peckhem bis nach Islington ins Büro fahren muss. Wenn ich einen schlechten Tag habe und es mir eh schon schwerfällt aufzustehen, macht es die Aussicht auf die lange Zeit in den Öffis nicht gerade leichter. Ängste, eine überfüllte Bahn und gestresste Menschen sind keine gute Kombination. Ich interagiere meist mit niemandem, bis ich im Büro angekommen bin. Niemand schaut dich in der Londoner Overground-Bahn an – ganz zu schweigen von einem kurzen Lächeln oder netten Worten. Die ersten Worte wechsle ich meist mit der Barista im Café. Das ist eigentlich ein ganz schöner Start in den Tag. In meinem Job habe ich viel mit Menschen zu tun. Doch obwohl ich meist von Kolleg*innen umgeben bin, finde ich, dass das Büro ein einsamer Ort sein kann. Weil ich die Personalleiterin bin, trauen sich zudem viele nicht, offen mit mir zu reden. Sie glauben, ich könnte sie verpetzen.
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Im Office passiert es schnell, dass du immer wieder dieselbe Unterhaltung mit verschiedenen Leuten führst, aber zu niemandem eine tiefere Beziehung, geschweige denn eine Freundschaft aufbaust. Du holst dir einen Kaffee und sie fragen dich „Hey, wie geht’s dir?“ also antwortest du „Gut, danke. Und dir?“. Aber das war’s dann auch schon wieder. So läuft das bei mir den ganzen Tag. Irgendwann habe ich Feierabend und gehe nach Hause.
Am Wochenende treffe ich fast nie jemanden – weder meine Freund*innen noch sonst jemanden. Manchmal gehe ich shoppen, damit ich unter Leute komme, und gebe zu viel Geld für Klamotten aus. Wenn ich mich allein fühle, geh ich auch gern mal spazieren, lese ein Buch oder gehe auf Konzerte. Wobei ich zugeben muss, dass ich in letzter Zeit schon nicht mehr so oft auf Gigs gegangen bin. Es fällt mir schwer mich zu überwinden, das alleine zu machen. Es fühlt sich einfach komisch an – als ob mich alle anstarren und sich fragen würden, ob ich keine Freund*innen hätte. Aber die Konzerte fehlen mir schon sehr.
Ich versuche wenigstens ein, zwei Mal pro Woche etwas zu unternehmen – wie nach der Arbeit in den Pub zu gehen. Und ich versuche auch andere Sachen zu planen, aber wie schon gesagt: Meine Freund*innen haben alle schon Kinder oder sind vergeben. Ich will mich nicht ständig aufdrängen. Ich versuche zum Beispiel immer ja zu sagen, wenn mich jemand fragt, ob ich mit in eine Bar kommen will. Aber das hat auch seine Tücken, denn wenn du ständig Alkohol trinkst, weil du dich nur dann glücklich fühlst (und andere Menschen um dich hast), läuft auch etwas schief. Also versuche ich, eine Balance zwischen den positiven Seiten und den negativen Auswirkungen auf meine Gesundheit zu finden.
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Einsamkeit & Social Media
Ich bin bei allen großen Social-Media-Plattformen angemeldet, aber ich versuche, nicht zu viel Zeit damit zu verbringen. Ich habe dort ein paar richtig tolle Menschen kennengelernt, aber wenn du sehr ängstlich bist oder kein Selbstvertrauen hast, können dich Facebook und Instagram auch nicht retten. Es ist die alte Leier: Ständig siehst du, was die anderen alles erleben und wie aufregend ihr Leben ist – zumindest denkst du das. Mir ist natürlich vollkommen bewusst, dass die Profile meist nur die halbe Wahrheit zeigen. Trotzdem bewirken die Posts etwas in mir. Ich habe lange Probleme mit meinem Selbstvertrauen und meinem Körper gehabt. Und das Gefährlichste, was du dann machen kannst, ist, dich und dein Leben mit anderen Menschen zu vergleichen. Schließlich verwenden nicht nur Promis, sondern auch „normale“ Menschen Filter und Apps, um besser auszusehen. Doch auch wenn du das weißt, denkst du irgendwann: „Warum kann ich nicht so aussehen wie sie?“. Dazu kommt, dass die sozialen Medien bei mir FOMO auslösen, also die Angst, ständig etwas zu verpassen.
Wenn du jemandem von deiner Einsamkeit erzählst, reagieren sie meist mit „Es wird Zeit, dass du einen Mann findest“ oder „Meld dich doch mal bei Tinder an“. Aber darum geht es mir gar nicht. Ich bin nicht einfach nur einsam, weil ich keinen Mann in meinem Leben habe. Ich bin aus verschiedenen Gründen einsam. Auszugehen und mit irgendjemandem zu schlafen wird daran nichts ändern – und wenn doch, dann würde ich mich danach nur noch einsamer fühlen.
Viele Menschen verstehen nicht, warum sich jemand so einsam fühlen kann, die in einer so großartigen Stadt wohnt und einen Job hat. Sie denken: „Du hast so viel mehr als andere, warum bist du nicht glücklich?“. Ich glaube, dass es natürlich auch darauf ankommt, mit wem du sprichst, aber die Reaktionen mancher Leute sind eben alles andere als positiv oder verständnisvoll.
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Tipps für einsame Menschen
Wenn es dir ähnlich geht wie mir, solltest du eines nicht vergessen: Irgendwann verschwinden deine negativen Gefühle auch wieder. Wenn ich zum Beispiel einen richtig schlechten Tag habe, sage ich mir, dass morgen ein neuer Tag ist – und der wird hoffentlich besser. Hilfreich kann es auch sein, sich ein Hobby zu suchen. Und dabei ist es vollkommen egal, ob du kochst, spazieren gehst, Ausstellungen besuchst oder Filme schaust. Abends fühle ich mich oft besonders einsam, aber wenn ich dann eine Serie wie Grey's Anatomy schaue (eine Umarmung für die Seele), und eine Folge nach der nächsten binge-watche, muss ich über nichts nachdenken und das ist fantastisch. Und auch Social Media musst du nicht außen vor lassen, aber navigiere sie mit Sinn und Verstand. Auf diese Weise andere Menschen kennenzulernen, denen es ähnlich geht wie dir und festzustellen, dass du nicht allein mit deiner Einsamkeit bist, kann sehr erleichternd und motivierend sein.
Wenn du selbst an einer Angststörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.