Ein emotionaler blinder Fleck ist einer dieser schwammigen Begriffe, die seit Jahrzehnten in Wellness-Kreisen und -Gesprächen auftauchen. Die berühmte US-amerikanische Talkshow-Moderatorin, Schauspielerin und Unternehmerin Oprah hat den Begriff 2002 ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Als ich eine Phase hatte, in der ich alle möglichen Selbsthilfebücher kaufte, verschlang ich eifrig alles, was ich zu diesem Thema – von heiter bis fragwürdig – in die Hände kriegen konnte. Eigentlich dachte ich, es wäre inzwischen aufs Abstellgleis geschoben worden und hätte sich in allgemeinere Konzepte wie Achtsamkeit, Reflexion und Selbsterkenntnis verwandelt. Es hat mich daher überrascht, dass in letzter Zeit immer wieder neue Artikel rund um emotionale Schwachstellen aufgetaucht sind. Offenbar ist dieses Thema auch nach 20 Jahren noch relevant, denn die Zahl der Google-Suchanfragen steigt derzeit wieder deutlich an. Da Memes zu „emotionalem Ballast“ im Internet hoch im Kurs stehen, frage ich mich, ob emotionale blinde Flecken als Nächstes dran sein könnten. Ist dieses Konzept heute aber überhaupt noch brauchbar? Und warum spricht es mich (immer noch) so sehr an?
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Blinde Flecken können so ziemlich alles sein, und sie werden auf unterschiedliche Weise definiert. Manche sprechen von einer Diskrepanz oder „Lücke“ zwischen dem, wie wir wahrgenommen werden, und dem, wie wir denken, dass wir wahrgenommen werden. Dieser Unterschied ist uns nicht bewusst. Deshalb können wir das Ganze auch nicht beeinflussen, solange wir im Dunkeln tappen. Diese Flecken können aber sehr wohl einen Einfluss auf unser Leben und die Menschen um uns herum haben. Beispiele dafür können sein, dass wir immer wieder dieselben problematischen Beziehungen eingehen, dass wir nicht in der Lage sind, unsere Erfolge anzuerkennen, oder dass wir uns nicht dessen bewusst sind, wie wir z. B. in Meetings rüberkommen.
„Ein emotionaler blinder Fleck ist wie ein toter Winkel beim Autofahren, wenn wir eine Stelle auf der Straße nicht sehen können, obwohl wir uns umsehen und in die Spiegel schauen“, sagt Georgina Ross, Psychotherapeutin und Mitglied des Counselling Directory. „Diese Flecken können oft von anderen gesehen werden, nicht aber von uns selbst.“
Motiviert durch Bücher wie Blind Spots: Why Smart People Do Dumb Things (2007) begab ich mich auf die Suche nach meinen eigenen blinden Flecken, aber wurde daraus nicht schlauer. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich das im Alleingang tat und deshalb auf der falschen Fährte war. „Fast alle Menschen haben emotionale blinde Flecken. Solange wir uns ihrer nicht bewusst sind oder sie uns nicht aufgezeigt werden, können wir oft nichts dagegen tun“, sagt Georgina. Es ist schwierig, einen blinden Fleck selbst ausfindig zu machen, denn sonst wäre ja schließlich nicht von blinden Flecken die Rede, wenn wir dazu in der Lage wären.
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Warum also werde ich gerade jetzt, wo es doch eine Million andere Dinge gibt, über die ich mir Sorgen machen sollte, den Gedanken an emotionale blinde Flecken nicht mehr los? „Die Pandemie hat dazu geführt, dass sich mehr Menschen Unterstützung suchen und bestimmte Aspekte ihres Lebens ändern wollen“, sagt Georgina und führt an, dass das Thema in letzter Zeit häufig bei ihren Kund:innen aufkommt. „Vielleicht liegt es daran, dass sie sich immer mehr bewusst werden, dass sie einen oder mehrere blinde Flecken haben und Hilfe brauchen, um zu lernen, mit ihnen umzugehen.“
Georgina ist der Meinung, dass das Erkennen von blinden Flecken einen großen (und positiven) Einfluss auf dein weiteres Leben haben kann. „Sobald du sie erkannt hast, kannst du auch etwas daran ändern, was sich positiv auf deine Beziehungen im Berufs- und/oder Privatleben auswirkt.“
Eine gute Möglichkeit, einen blinden Fleck zu entdecken, besteht darin, einfach nachzufragen. „Manchmal kommentieren oder erwähnen Freund:innen, Familienmitglieder, Arbeitskolleg:innen oder Bekannte eine Eigenschaft oder Verhaltensweise, dir wir uns selbst nie zuschreiben würden“, sagt Georgina. „Wenn mehr als eine Person das Gleiche anführt, handelt es sich hierbei möglicherweise um einen blinden Fleck, dessen du dir vorher nicht bewusst warst.“
Das bedeutet nicht, dass es leicht ist, von anderen zu erfahren, was deine persönlichen emotionalen Schwachstellen sind. „Wenn du deine Mitmenschen darum bittest, dich zu beschreiben, kann es sein, dass sich ihre Beschreibung sehr von dem unterscheidet, wie du dich selbst beschreiben würdest. Wenn das passiert, schrecken wir oft zurück und schütteln den Kopf, weil wir uns selbst nicht wiedererkennen“, schreiben Douglas Stone und Sheila Heen in ihrem 2014 erschienenen Buch Thanks for the Feedback.
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Wenn du an deinem emotionalen blinden Punkt arbeiten willst, kann es wirklich hilfreich sein, ihn dir mithilfe von Therapeut:innen noch mehr ins Bewusstsein zu rücken.
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Ich wollte es ausprobieren und fragte deshalb vier enge Freund:innen, was ihrer Meinung nach meine emotionalen blinden Flecken seien. Zwei von ihnen meinten, ich bräuchte viel Lob und Anerkennung. Ein Freund ging sogar so weit, meine Schwachstelle als „unbegrenzten Drang nach Bestätigung“ zu bezeichnen. Das hat mich sehr überrascht und ist sicherlich etwas, das mir vorher nicht bewusst gewesen war. Ich werde jetzt immer daran denken, wann immer ich sonst meine:n Partner:in zum dritten Mal fragen würde, ob das Mittagessen, das ich zubereitet habe, auch tatsächlich gut schmeckt.
Aber ist es überhaupt eine gute Idee, sich auf die Suche nach unseren blinden Flecken zu machen? Vielleicht sind sie etwas, das in einem Trauma verwurzelt ist, das wir verdrängt und von dem wir uns mithilfe von Selbstmedikation und unserem Alltag ablenken wollen. „Ich bin mir ganz sicher, dass ich blinde Flecken habe“, sagt Sam, 29. „Ich weiß, dass sie irgendwo da drinnen sind, aber ich bin noch nicht dazu bereit, sie zu erforschen.“
Vielleicht vermeiden wir sie, weil wir nicht wissen, was wir mit ihnen anfangen sollen, sobald sie einmal aufgedeckt sind. Laura, 25, hat hart daran gearbeitet, herauszufinden, was ihre eigenen blinden Flecken sind. Als es dann soweit war, wusste sie nicht, was sie mit dieser Information tun sollte und wie sie sie sinnvoll verarbeiten könne. „Mein größter [emotionaler blinder Fleck] ist, dass ich mich von allen, die mir nahestehen, distanziere, wann immer es mir psychisch nicht gut geht. Ich bin nämlich ein Mensch, der es absolut vermeidet, darüber zu sprechen, was ich wirklich fühle“, sagt sie. „Ich werde dann immer ganz still, was Tage, Wochen oder Monate andauern kann. Das ist für mich ein Bewältigungsmechanismus, damit nicht einmal ich mich damit auseinandersetzen muss.“
Wie immer führen alle Wege zu einer Therapie und zum Gespräch darüber. „Eine Therapie schafft eine sichere und vertrauliche Atmosphäre, die es ermöglicht, über alles zu sprechen und alle aufkommenden Probleme mit einer vertrauenswürdigen Fachkraft durchzuarbeiten“, empfiehlt Georgina. „Wenn du an deinem emotionalen blinden Punkt arbeiten willst, kann es wirklich hilfreich sein, ihn dir mithilfe von Therapeut:innen noch mehr ins Bewusstsein zu rücken. Wenn du ihn bereits eine Zeit lang mit dir herumgetragen hast, kann es sein, dass du dich wirklich bemühen musst, um dich zu ändern. Dir deiner Schwachstellen bewusst zu werden und sie anzuerkennen, hilft in der Regel sehr dabei, das Problem in Frage zu überwinden.“
Emotionale blinde Flecken scheinen, wie erwartet, ein weiterer Weg in die komplexe Welt der Achtsamkeit zu sein – der mich besonders anspricht. Zu lernen, achtsam zu sein, erfordert auch in diesem Zusammenhang Hingabe und harte Arbeit. Was mir gefällt, ist, dass du an einer bestimmten Schwachstelle arbeitest, anstatt dem pauschalen Ratschlag „Sei einfach achtsamer“ zu folgen. Denn dieser ist nicht immer hilfreich. Blinde Flecken deuten darauf hin, dass es etwas gibt, das noch aufgedeckt, gespürt und wiederentdeckt werden muss. Sie ausfindig zu machen, ist nur der Anfang, und wir sollten dabei mit Vorsicht vorgehen. Blinde Flecken spiegeln nämlich die Schattenseite unseres Geistes wider, weshalb wir uns auf diesem Gebiet nur sehr vorsichtig vorwagen sollten – und auch nur dann, wenn wir uns auch sicher genug fühlen, um uns mit dem, was wir bisher nicht sehen wollten, auseinanderzusetzen.
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