Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Essstörungen.
Joel war gerade bei der Arbeit, als er auf Facebook eine Nachricht von seiner Freundin Emma bekam. Darin hatte sie den Mut aufgebracht, ihm endlich von ihrer Bulimie zu erzählen.
Das Ganze ist drei Jahre her, doch fällt es Joel immer noch schwer, darüber zu sprechen. Er erzählt mir, dass er sich erstmal hinsetzen musste, um diese Nachricht zu verarbeiten, bevor er zum Handy griff und „Bulimie“ googelte.
„Es war alles ziemlich überwältigend. Ich glaube, ein Teil von mir wünschte sich, sie hätte es mir persönlich gesagt, damit ich sie einfach hätte umarmen können. Aber ich wusste, dass sie nicht das Gefühl hatte, es mir persönlich sagen zu können“, sagt er.
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Nach einiger Zeit antwortete er seiner heutigen Frau (die beiden sind seit sechs Monaten verheiratet), wie dankbar er ihr dafür war, dass sie sich ihm anvertraut hatte – und dass er alles tun würde, um sie zu unterstützen. Joel gibt zu, dass er vor dieser Nachricht nur sehr wenig über Bulimie gewusst hatte. „Ich dachte, das war doch diese Krankheit, bei der man sich nach dem Essen übergibt. Das war aber auch schon so ziemlich alles, was ich wusste“, meint er.
„Wie spreche ich mit meinem Partner oder meiner Partnerin, wenn ich mir Sorgen um ihn:sie mache?“
Rund um Essstörungen kursieren jede Menge Missverständnisse und Irrglauben, weswegen sie häufig nicht als die psychologischen und physischen Erkrankungen anerkannt werden, die sie sind. Wenn ein geliebter Mensch mit einem so besorgniserregenden persönlichen Problem zu dir kommt, kann es schwer sein, diese Neuigkeit zu verdauen. Ganz egal, ob dir die Krankheit anvertraut wurde oder dir selbst das abnormale Verhalten deines Partners oder deiner Partnerin aufgefallen ist, solltest du so schnell wie möglich handeln, empfiehlt Danni Rowlands von der australischen Wohltätigkeitsorganisation Butterfly Foundation für Essstörungen.
„Ein frühes Eingreifen kann einen großen Unterschied darin machen, wie ernst und langwierig eine Essstörung wird“, erzählt sie. Bevor du ein solches Gespräch beginnst, solltest du allerdings drei Punkte beachten: Informiere dich, sei einfühlsam und bilde dir kein Urteil.
„Lerne so viel über Essstörungen, wie du kannst. Du brauchst nicht alle Antworten zu kennen, aber ein generelles Wissen kann dir dabei helfen, die Erfahrungen deines Partners oder deiner Partnerin besser nachzuvollziehen. Versuche darauf zu verzichten, das Thema beim Essen, vor anderen Menschen oder in stressigen Situationen anzusprechen“, rät Rowlands. „Vermeide außerdem Kommentare zu seinem:ihren Gewicht oder Aussehen und konzentriere dich stattdessen darauf, welche Veränderungen dir hinsichtlich seiner:ihrer Stimmung oder Verhaltensweisen aufgefallen sind und Sorgen bereiten.“
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Dazu verlässt du dich am besten auf ich-bezogene Aussagen zu deinen Gefühlen. „‚Ich‘-Aussagen anstatt ‚Du‘-Aussagen (zum Beispiel: ‚Ich mache mir Sorgen um dich‘ statt ‚Du machst mir Sorgen‘) können deinem Gegenüber die Last der Schuld oder Scham nehmen“, erklärt Rowlands.
„Die Geheimniskrämerei rund um die Krankheit schadet meinem Vertrauen in die Beziehung.“
Emmas Diagnose zu verarbeiten fiel Joel mitunter deswegen so schwer, weil er nicht nachvollziehen konnte, wieso sie die Krankheit vor ihm verheimlicht hatte. „Die Geheimniskrämerei konnte ich anfangs nicht so gut akzeptieren. Es dauerte eine Weile, bis ich verstanden hatte, dass sie die Essstörung vor mir verborgen, mich aber nicht belogen hatte“, meint Joel. Es kostete ihn viel Mühe zu begreifen, dass das Vertrauen zwischen ihnen nicht verletzt worden war. Das ist nachvollziehbar: Beziehungen fußen schließlich auf Vertrauen und Ehrlichkeit, und Essstörungen leben oft vom absoluten Gegenteil.
„Vielleicht ist dein:e Partner:in dahingehend verschlossener, weil er:sie sich für das eigene Verhalten schämt oder es selbst nicht versteht. Essstörungen können einen Menschen völlig einnehmen, und es ist nicht unüblich, dass dessen Partner:in dann das Gefühl hat, die Persönlichkeit des:der Betroffenen habe sich verändert. Vielleicht ist er:sie unruhiger, gestresster, gereizter oder frustrierter als früher“, erklärt Rowlands. Sie empfiehlt daher, immer daran zu denken, den:die Partner:in im Kopf von der Essstörung zu trennen.
„Ich will das Problem einfach lösen.“
Wenn sie mit einer schwierigen Situation konfrontiert werden, schalten manche Partner:innen direkt in den Action-Modus, weil sie das Problem „beheben“ wollen. Joel ist einer dieser Menschen. Er versteht zwar, dass eine Essstörung nie wirklich verschwindet, doch empfand es als tröstend, seiner Freundin tatkräftig zur Seite zu stehen.
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„Ich war die Art von Support, die nach Ärzt:innen recherchierte und Termine vereinbarte. Es ist wichtig, deinem Partner oder deiner Partnerin dabei zu helfen, sich professionellen Rat zu suchen, und ihn:sie während der Behandlung zu unterstützen. Die kann nämlich manchmal angsteinflößender sein als die Krankheit selbst“, sagt er.
Rowlands verweist dazu auf Studien, die belegen, dass ein:e unterstützende:r Partner:in ein „Antrieb“ bei der Heilung sein kann, betont aber auch, dass es eben nur das ist: Unterstützung – aber kein „Grund“ zur Heilung.
„Versuche zu helfen, ohne die betroffene Person übermäßig zu kontrollieren oder zu steuern. Sei einfach während der Behandlung und Heilungsphase für sie da“, meint sie.
„Meine eigene geistige Gesundheit leidet unter der Essstörung.“
Während unseres Gesprächs betont Joel immer wieder, wie dankbar er dafür ist, Emmas Unterstützung zu sein – gewährt mir aber auch einen kleinen Einblick darin, dass eine solche Rolle ebenfalls Konsequenzen für die eigene geistige Gesundheit haben kann.
„Ich bin die Art Mensch, die einfach immer alles runterschluckt und sich nicht damit auseinandersetzt“, erzählt er. „Ich habe mir so oft selbst gesagt: ‚Ich mache das hier alles für Emma. Joel, reiß dich zusammen!‘ Für Partner:innen kann das definitiv sehr belastend sein.“
Mit dieser Erfahrung ist er längst nicht allein. Bei einer Studie von 2020 gaben fast 64 Prozent aller befragten unterstützenden Bezugspersonen (nicht nur Partner:innen, sondern auch Freund:innen oder Verwandte) zu, selbst psychologische Hilfe zu brauchen, sie sich aber oft nicht zu holen, weil sie der Meinung sind, sie sollten die von der Essstörung betroffene Person priorisieren.
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„Es ist ganz normal, in so einer Situation Angst, Sorgen, Hoffnungslosigkeit und Frust zu empfinden. Da ist es sehr wichtig, diese Gefühle mit anderen zu teilen“, betont Rowlands. Ihrer Meinung nach sollten sich die Unterstützer:innen daher anderen Bezugspersonen anvertrauen – nicht aber den Betroffenen der Essstörung, die sich gerade auf die eigene Heilung konzentrieren. „Es kann auch helfen, mit anderen Helfenden in Kontakt zu treten, die genau verstehen, was du gerade durchmachst, und selbst schon eine Heilung begleitet haben.“ Denn du bist mit deiner Situation nicht allein – es gibt jede Menge Menschen da draußen, die wissen, wie sich das anfühlt!
Wenn du selbst an einer Essstörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe braucht, kannst du dich beispielsweise per Email, Chat, Video-Beratung oder Telefon an das ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen wenden.
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