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Zwischen Moral & Ehrlichkeit: 3 Wochen in einer WG mit einer geflüchteten Familie

FOTO: Getty Images
Es poltert im Gästezimmer, das eigentlich unser nagelneues Wohnzimmer ist. Wir sind gerade eingezogen, sechs Wochen ist es her. Die Küche sieht noch ein bisschen provisorisch aus. Im Esszimmer fehlen ein paar Bilder an der Wand – bisher hängen zum Teil nur leere Rahmen ­– und im Flur stehen jede Menge Kartons. Das Wohnzimmer ist ganz ansehnlich: Gästebett, endlich die neue Couch, mit der ich seit Monaten liebäugle, ein Fernseher und ein bisschen Deko. Das wächst noch.
Es ging alles ganz schnell: Ein Reich für mich und meinen neuen Freund, 90 feine Berliner Altbauquadratmeter, kernsaniert, Holzdielen und Stuck. Endlich Zeit zu zweit, endlich alles genauso, wie wir es wollen. Nur vom Wohnzimmer sehen wir nichts. Beide Türen sind verschlossen, drin sind gefühlt 35 Grad. Unseren Fernseher haben wir bisher nicht genutzt, aber er ist pausenlos an. Es läuft N24, stetige News aus den Krisengebieten; Krieg in Syrien, Afghanistan, im Irak. Und in unserem Wohnzimmer drei Menschen, die vor diesem Krieg geflohen sind. Gerade hat Zoya, die vierjährige Tochter von Shabnam und Maihan* ihre Spielkiste umgeworfen. Die Katze flüchtet vor dem Poltern unter die Couch. Ich atme durch: Bitte nicht noch etwas kaputt machen. Ich trauere noch immer meiner Bettwäsche aus Naturseide hinterher, die die zuvorkommende Shabnam bei 60 Grad gewaschen hat und jetzt winzig klein und hart ist.
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Das Flüchtlingsdrama, das sich in so vielen Ländern abspielt, hat sich auch nach Deutschland verlagert: Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin stehen im Spätsommer 2015 Menschenmassen und warten auf Hilfe. Sie schlafen im Park, auf der Straße, in Zelten, Turnhallen, Kasernen. Mein Freund und ich haben gespendet – Kleidung und Geld –, haben uns den Kopf zerbrochen und überlegt, wie wir helfen können. Und plötzlich war es ganz einfach: In einer Facebookgruppe wird spontan noch für den gleichen Tag ein Dach über den Kopf für eine dreiköpfige Familie aus Afghanistan gesucht. Sie haben kein Hostel und die Hostelbesitzer, bei denen sie sich melden sollten, bevorzugen Syrer als Mieter der horrend teuren Zimmer. Zwei Telefonate später und die drei stehen an der U-Bahnstation im beschaulichen Berlin-Tempelhof. Der Dolmetscher verspätet sich und ich, die meinem Freund gut zugeredet hat, bin plötzlich unsicher. War das vielleicht ein bisschen überstürzt? Drei Menschen, drei traumatisierte Menschen, darunter ein kleines Mädchen; keiner der drei kann Deutsch oder Englisch. Die Kleine sieht verängstigt aus, die Eltern sind nett, aber sehr zurückhaltend. Ich erkenne meine Generation in ihnen, aber nicht meine Unbeschwertheit. Sie sind müde, wollen nur schlafen, ruhen, durchatmen. Ich nehme sie mit in mein Zuhause, was eigentlich noch gar kein fertiges Zuhause ist – anfangs hieß es, für ein Wochenende, aber später werden daraus fast drei Wochen.

Die Kleine sieht verängstigt aus, die Eltern sind nett, aber sehr zurückhaltend. Ich erkenne meine Generation in ihnen, aber nicht meine Unbeschwertheit.

Maren Aline Merken
Mein Kühlschrank ist aufgeteilt in halal und nicht halal, ich habe Couscoussalat und Quark vorbereitet. „Es schmeckt ihnen,” sagt die App. Die App, in die Maihan auf Farsi spricht und die dann die halbwegs deutsche Übersetzung ausspuckt, sagt aber auch: „Eine Tochter zwei Leben Website.“ Und wir vier Erwachsenen nicken dazu, weil ich mit Händen nicht erklären kann, dass die App nicht funktioniert und sie nicht, was sie eigentlich sagen wollten.
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Unser Zusammenleben gestaltet sich kompliziert, sind wir ehrlich. Die drei genießen ihre Ruhe. Sie frieren im Berliner Winter und heizen die Wohnung auf. Wir erklären ihnen, dass sie lüften müssen, das sei ein Altbau. „Very cold“, sagt Shabnam und lächelt. Zoya ist aufgeweckt, sie ist Kind, zu viel Kind für zwei Endzwanziger wie meinen Freund und mich, deren Erste-Welt-Probleme sonst eher daraus bestehen, wer als erstes aufsteht und die Katze füttert. Tagsüber spielt sie, mit allem, was ich auf die Schnelle über die tollen Kollegen im Büro besorgen konnte: Ihre Augen leuchten, wenn sie die Teddybären ordnet und Puppen in den Schlaf wiegt.
Nachts ist sie nicht mehr so ausgeglichen: Sie weint viel, schreckt auf, pinkelt ins Bett, fast jede Nacht. Zoyas junge Augen haben zu viel gesehen für ihre vier Jahre. Sie haben gesehen, wie eine Mutter und ihr Kind bei der Überfahrt nach Griechenland ertrinken. Sie haben gesehen, wie Schleuser den Geflüchteten Gewehre in die Kniekehlen stießen, weil sie nicht ins überfüllte Boot steigen wollten. Sie hat Schüsse gehört und Menschen fallen sehen, als sie über die afghanische Grenze gerannt sind. Ihre Puppe hat dabei ihre Plastikbeine verloren – aber die sind immerhin nur aus Plastik. Viele Geflüchtete haben ähnliche Schicksale erlebt, wie ihre Puppe. Schicksale, die mehr weh tun, als eine Menschenseele aushalten kann, ohne Schaden zu nehmen.

Zoyas junge Augen haben zu viel gesehen für ihre vier Jahre. Sie haben gesehen, wie eine Mutter und ihr Kind bei der Überfahrt nach Griechenland ertrinken.

Maren Aline Merken
Maihan und Shabnam sind freundlich, dankbar, liebenswert. Aber sie sind auch ein eigener Kosmos, eine kleine Familie, mit eigenen Hierarchien, die für uns schwer nachzuvollziehen sind. Im Haus trägt Shabnam Kopftuch. Sie gibt meinem Freund nicht die Hand, auch nicht den Freunden, die zu Besuch kommen und mit uns essen. Als wir einen Abend unbeschwert tanzen, tun wir das in einem anderen Zimmer: Frauen tanzen nicht vor Männern. Dass Matthias und ich nicht verheiratet sind und trotzdem zusammen wohnen, finden die beiden seltsam. Auch, dass ein Foto von einem knutschenden Pärchen in unserem Esszimmer hängt – Kunst aus New York – ist ihnen ein Rätsel. Noch abstrakter wird es für sie, als mein Ex-Mitbewohner zu Gast ist: Matthias bleibt daheim, aber Simon und ich gehen tanzen. Ich und ein fremder Mann. Unsere Leben sind so unterschiedlich, dass wir an viele Grenzen stoßen. Unsere Gäste aus Afghanistan sind laut und lebhaft, sie streiten, weinen, meckern. Sie telefonieren laut und aufgeregt mit ihren Angehörigen in allen Räumen, ärgern die genügsame Katze, lassen viel rumstehen. Es gibt mehr als drei, vier Momente, in denen ich mir wünsche, wir wären allein in unseren neuen vier Wänden. Momente, in denen ich länger im Büro bleibe, um das Chaos zuhause auszublenden. In den gleichen Momenten denke ich mir, wie prädestiniert unser Leben ist. Wir haben studiert, wir haben ein tolles Dach über dem Kopf. Wir leben sicher und im Überfluss und haben wenig ernsthafte Ängste, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
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Unsere Leben sind so unterschiedlich, dass wir an viele Grenzen stoßen. Unsere Gäste aus Afghanistan sind laut und lebhaft, sie streiten, weinen, meckern.

Maren Aline Merken
Maihan und Shabnam stammen aus dem Iran, einem – laut Deutschland – sicheren Herkunftsland. Jahrelang haben sie jedoch in Afghanistan gelebt, gearbeitet, ein Kind bekommen. In einem Afghanistan, in dem Bomben fallen und Anschläge an der Tagesordnung sind. In dem Frauen wenig Rechte haben und es wenig Geld für viele von Terror gebeutelte Menschen gibt. Zurück in den Iran wollten sie nicht: Zoya ist ein Mädchen und hätte kaum Rechte und Chancen in dem islamisch geprägten Land. Maihan will ein besseres Leben für seine Vierjährige. Ihre Vorstellungen von Deutschland stellen sich als falsch heraus: Sie haben mit viel mehr Unterstützung gerechnet, mit einer kleinen Wohnung vielleicht, nicht einer Turnhalle mit 157 anderen Bewohnern, wie der, in der sie die ersten Wochen in Deutschland verbracht haben. Ihr Bild von Berlin ist naiv gewesen. Bei uns wollten sie ungern ausziehen, sind sie hier doch endlich angekommen. Aber wer maßt sich an, ihnen das zu verübeln? Vielleicht ist eine Turnhalle nicht schön, eine Wohnung wie unsere nur ein Übergang. Aber es ist sicher – vor Terror, Bomben, Krieg. „Niemand riskiert mit seiner Familie eine Überfahrt über das Mittelmeer, wenn das, was hinter ihm liegt, nicht die Hölle ist,“ sagt Maihan leise. „Ich habe das Wasser mit den Händen aus dem Boot geschippt,“ sagt Zoya stolz. „Ich lebe,” sagt Shabnam und schluckt.
Abends hören wir iranische Musik und die beiden weinen. Erst verhalten, dann schluchzen sie. Sie zeigen uns ihren Weg über das Mittelmeer auf Google Maps, erklären mit Händen und Füßen, wie sie gerannt sind und wie man auf sie geschossen hat. Wie das kleine Mädchen von Boot gefallen, die Mutter in Panik hinterher gesprungen und ihr Boot einfach weitergefahren ist. Sie weinen, beruhigen sich, weinen wieder. Und wir schämen uns dafür, dass uns die Lautstärke nervt, dass zu wenig gelüftet wird und dass ich zum sechsten Mal den Topf gespült und weggeräumt habe, den sie benutzt haben. Es prallen Welten aufeinander, wenn man geflüchtete Menschen bei sich aufnimmt. Aber vielleicht ist gerade das der erste richtige Schritt in Richtung Integration. Man lernt so viel mehr, als man erwartet: Respekt, Toleranz, Mitgefühl und Akzeptanz. Und: Dass auch 65 qm reichen, um gut zu leben.
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Es prallen Welten aufeinander, wenn man geflüchtete Menschen bei sich aufnimmt. Aber vielleicht ist gerade das der erste richtige Schritt in Richtung Integration. Man lernt so viel mehr, als man erwartet: Respekt, Toleranz, Mitgefühl und Akzeptanz.

Maren Aline Merken
Gut acht Monate später – unsere Gäste sind bereits ausgezogen – schaue ich bei Stern TV einen Bericht über das LaGeSo und ich sehe Zoya, die in die Kamera winkt. Eine Freundin schreibt im gleichen Moment, sie habe sie im TV gesehen. Ich bin erleichtert, denn nachdem Afghanen recht schnell abgeschoben werden dürfen, hatte ich Sorge, die kleine Familie wäre zurück in die Wirren des ihnen so fremd gewordenen Landes geschickt worden. Dann kommen mir die Tränen: Wenn sie vor dem LaGeSo stehen, heißt das, dass es noch immer kein Vorankommen in ihrem Status gibt und sie noch immer nicht zur Ruhe gekommen sind. Ich sitze in meiner 90qm Wohnung und weine, weil ich mir so unglaublich schäbig vorkomme, dass ich all diese Dinge genießen darf und mich zeitweise geärgert habe, dass die Heizung so viel lief. Sie müssen in eine so ungewisse Zukunft blicken und ich kann nicht mehr tun, als ein bisschen Hilfe zu leisten.
Ich beschließe, dass mein Freund ich und bald wieder auf unser Wohnzimmer verzichten: Nicht für immer und sicherlich mit Kompromissen und Opfern. Aber immerhin Opfern, die gebracht werden müssen, um dem ein oder anderen zumindest temporär das Gefühl zu geben, zuhause zu sein. Ich denke an Zoya und die ersten deutschen Worte, die sie zu mir gesagt hat: „Schlafen. Müde. Bitte schlafen.“

Ich denke an Zoya und die ersten deutschen Worte, die sie zu mir gesagt hat: „Schlafen. Müde. Bitte schlafen.“

Maren Aline Merken
*Anmerkung der Redaktion: Die Namen sind aufgrund von möglichen Anfeindungen geändert worden.
INFOBOX: Wer Interesse an der Unterstützung und dem direkten Kennenlernen und Austausch mit geflüchteten Menschen hat, schaut sich gern die folgenden Seiten an:
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