Eigentlich bin ich ganz gern erwachsen. Ich liebe es, einen Job zu haben. Ich liebe es, Geld zu verdienen und es für Dinge auszugeben, die ich haben möchte – zumindest das, was nach Abzug von Miete und Co. noch übrig ist. Ich liebe es, machen zu können, was ich will, ohne vorher jemanden um Erlaubnis bitten zu müssen – sei es ein Wochenendtrip mit Freundinnen oder ein Sonntag auf dem Sofa.
Doch manchmal passiert etwas mit mir und ich fühle mich auf einmal wieder, als wäre ich sieben Jahre alt. Meine Schwester macht einen abfälligen Kommentar oder meine Mama erhebt ihre Stimme gegen mich, und schon würde ich mich am liebsten auf den Boden werfen, schreien und wie wild mit den Armen umher fuchteln.
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Laut der Psychotherapeutin Joan E. Childs ist es mein „inneres Kind“, das sich in diesen Momenten zu Wort meldet. Bestimmt hast du den Begriff schon mal gehört. Im Prinzip ist das einfach ein kleiner Teil von dir, der nie erwachsen geworden ist. Und laut Childs, die sich auf das Thema spezialisiert hat, hat jede*r Erwachsene*r ein inneres Kind.
Childs verbringt einen Großteil ihrer Zeit damit, Menschen dabei zu helfen, ihr inneres Kind zu heilen. Das soll die mentale Gesundheit und die Beziehungen ihrer Patient*innen verbessern. Aber warum solltest du dein inneres Kind überhaupt heilen wollen – oder müssen?
Dinge, die im Kindesalter passieren, können Spuren hinterlassen und unsere Psyche nachhaltig prägen, erklärt Childs. „Wenn dein bester Freund wegzieht, sich die Eltern scheiden lassen oder du physischen oder psychischen Missbrauch erfährst, kann das für bleibende Wunden bei deinem inneren Kind sorgen“, schreibt Diana Raab in einem Artikel für Psychology Today. Vielleicht denkst du, du wärst längst darüber hinweg, doch „der Schmerz wird dich für den Rest deines Lebens begleiten und du könntest jederzeit an ihn erinnert werden“, so Raab.
Will heißen: Wenn meine Mutter zum wiederholten Male sagt, ich solle mir doch einen Friseurbesuch gönnen und ich daraufhin durchdrehe, könnte es sein, dass sie einen wunden Punkt meines inneren Kindes getroffen hat. „Dein inneres Kind ist der Teil deiner Personalität, der wie ein Kind fühlt und handelt“, so Raab. Wenn du das Gefühl hast, dein Verhalten nicht unter Kontrolle zu haben, liegt das demzufolge oft daran, dass dein inneres Kind die Führung übernommen hat.
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Die Idee eines inneren Kindes gibt es schon seit Jahrzehnten. Auch wenn der Begriff manchmal überbeansprucht wird. „Viele Schulen der Psychologie (zum Beispiel die Kognitive Psychologie, Psychoanalyse, Neuropsychologie) erkennen die kindliche Seite unserer Persönlichkeit an“, schreibt Sheri Jacobson, klinische Leiterin der Harley Therapy in London. Das ist die Seite, die immer noch an den Überzeugungen und Bewältigungsmechanismen festhält, die du als Kind gelernt hast. Der Teil von dir, der mit dem Kopf nickte, als ein*e Erwachsene*r zu dir sagte, vielleicht wäre Mathe nicht dein Ding. Oder der Teil von dir, der gelernt hat, Emotionen wie Angst oder Traurigkeit runterzuschlucken.
Um dein inneres Kind zu heilen, musst du dich darauf konzentrieren, die Gründe für die kindlichen Aspekte deiner Persönlichkeit aufzudecken und loszulassen – damit du auf Herausforderungen wie ein*e Erwachsene*r reagieren kannst und nicht wie ein Kind.
Die gute Nachricht ist, dass die Heilung des inneren Kinds viel mit Self-Care zu tun hat. Childs empfiehlt beispielsweise Meditationen, Yoga und mit deinem inneren Kind täglich fünf Minuten zu sprechen. Ja, das klingt ein bisschen weird, aber es fühlt sich überraschend gut an! Setz dich dafür einfach hin, versuche, dich zu entspannen und stelle dir dann eine jüngere Version von dir vor. Beruhige dich selbst mit Sätzen wie Ich bin da für dich. Du bist liebenswert. Du bist intelligent. „Es ist, als ob du einem ängstlichen Kind gut zureden würdest, nur dass du mit dir selbst und nicht mit einer anderen Person redest“, so Childs.
Laut Raab kannst du auch Dialoge aus Sicht deines inneren Kindes schreiben. „Damit gibst du deinem Schmerzen eine Stimme. Und manchmal ist das alles, was der Schmerz braucht“, so Raab. Sie empfiehlt außerdem, darüber nachzudenken und aufzuschreiben, was du früher gern gemacht hast und alte Fotos von dir anzuschauen. Wenn das alles nicht hilft, wäre es laut Raab vielleicht gar nicht so schlecht, dir professionelle Hilfe zu suchen.
Auch Childs ist der Meinung, dass du tiefe Wunden deines inneren Kindes nur dann wirklich heilen kannst, wenn du eine Therapie machst. Sie bietet dir einen sicheren Ort, an dem du deine Kindheitstraumata im Geiste noch einmal erleben und anschließend verarbeiten kannst.
Zurück in die Vergangenheit zu reisen kann sehr schwer sein – besonders, wenn dein inneres Kind ernsthafte Verletzungen erlitten hat. Aber manchmal ist es das Einzige, was dir dabei helfen kann, einen Schritt nach vorn zu gehen.