Wie viele Stunden hast du jetzt schon damit verbracht, Nachrichten auf deinem Smartphone zu beantworten, gleichzeitig Bridgerton zu gucken und dich langsam an den Bestseller heranzutasten, den du diese Woche endlich anfangen wolltest?
Unsere Generation ist gekennzeichnet durch eine riesige mediale Vielfalt und ständigen Medienkonsum – von Podcasts und Fernsehsendungen über Artikel bis hin zu sozialen Medien. Wir bauen aber keine echte Verbindung zu der aufgenommenen Information auf. Es überrascht also nicht, dass vor einigen Jahren der Begriff „Infobesity“ geprägt wurde – eine Kombination aus „information“ und „obesity“ (Übergewicht). Er beschreibt einen Zustand, der sich durch die dauernde Aufnahme von Unmengen an Daten auszeichnet und sich negativ auf unser Wohlbefinden und unsere Konzentrationsfähigkeit auswirkt. Das hört sich beängstigend vertraut an, nicht wahr?
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Eine Studie von Microsoft aus dem Jahr 2015 hat ergeben, dass unsere durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne aktuell bei nur noch acht Sekunden liegt und sich im Vergleich zum Jahr 2000 um etwa 33 Prozent vermindert hat. Die eines Goldfisches liegt bei neun Sekunden. Unsere (Un)Fähigkeit, uns zu konzentrieren, hat also eine beunruhigende Entwicklung genommen. Satya Nadella, CEO von Microsoft, sagte zu der Zeit: „Der wahre Rohstoff, der in der Zukunft rar sein wird, ist die Aufmerksamkeit der Menschen.“ Seitdem haben sich die Stimmen anderer, denen wir beim Medienkonsum ausgesetzt sind, nur noch vermehrt – unsere Aufmerksamkeit wird durch das Hören von Podcasts, das Schauen von Serien und dem Scrollen durch soziale Medien stärker denn je zuvor verwässert.
Als letzten Monat das US-Kapitol in Washington DC gestürmt wurde, habe ich – so wie die Mehrheit derer, denen ich in den sozialen Medien folge – meinem Ärger öffentlich Luft gemacht. Das habe ich nicht mit meinen eigenen Worten getan, sondern mithilfe von Posts anderer Personen, die meine Emotionen widerspiegelten. Das ist doch das Gleiche, oder? In diesem speziellen Fall – einem Putschversuch und einem eklatanten Beispiel für systemischen Rassismus – gab es ohne Frage nur eine Meinung, die es wert war, zu vertreten. Was ist aber, wenn ein Thema ein wenig nuancierter ist?
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Unsere Reposting-Kultur schafft ein Umfeld, das es einfach und effizient macht, Meinungen zu haben und mit anderen zu teilen. Sie fungiert als Puffer zwischen uns und der Notwendigkeit, uns damit auseinandersetzen zu müssen, was wir tatsächlich fühlen. Doch dieses Anpassen an die Meinungen anderer und das Reposten dieser Ansichten trübt unsere Fähigkeit, unseren eigenen, spezifischen Standpunkt zu bilden. Außerdem fühlt es sich in einer zunehmend besorgten Gesellschaft manchmal viel einfacher an, die Rhetorik anderer Leute zu übernehmen, als das Risiko einzugehen, etwas auszudrücken, das andere geringschätzen und ablehnen könnten. Keiner ist schließlich vor unserer „Cancel Culture“ sicher.
Offline haben die Verkäufe von Selbsthilfebüchern ein Rekordniveau erreicht. Ausgebrannte Millennials wenden sich an Psycholog:innen und Prominente wie Russel Brand, Fearne Cotton oder Ruby Wax, um zu erfahren, wie sie all die Herausforderungen, die unser modernes Leben mit sich bringt, am besten bewältigen können.
Wir wursteln uns zwar durch Bücher wie Speak Your Truth, Declutter Your Mind und Think Like a Monk, denken aber nicht wirklich eigenständig. Wir sind so sehr damit beschäftigt, die Ansichtspunkte und Geschichten anderer zu konsumieren – von der Art, zu denken, bis hin zur „richtigen“ Art, unsere Unterwäsche zu organisieren –, dass wir uns abgewöhnt haben, uns eine eigene Meinung zu bilden. Und das alles nur, weil uns die Fähigkeit oder die Motivation fehlt, uns allein mit unseren eigenen Gedanken auseinanderzusetzen. Wir haben Angst davor, uns zu langweilen.
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Was ist aber, wenn ein bisschen Langeweile tatsächlich gut für uns ist? Was ist, wenn sie uns die Möglichkeit gibt, uns auf einer tieferen Ebene mit Informationen zu beschäftigen, sodass wir sie vollständig verarbeiten und uns ein eigenes Bild machen können? So könnten wir impulsive und unüberlegte Kommentare vermeiden, die darauf basieren, was die Mehrheit der anderen denkt. Uns zu langweilen, gibt uns etwas Zeit zum Nachdenken – eine Gelegenheit, um einfach nur „zu sein“, anstatt uns ständig mit dem weißen Rauschen der Medien zu umgeben. Das kann wesentlich zu unserer persönlichen Zufriedenheit beitragen und sogar unsere Produktivität auf positive Weise beeinflussen.
In seinem Buch Indistractable: How to Control Your Attention and Choose Your Life sagt Nir Eyal, ein Experte für Verhaltensdesign, dass wir Gewohnheiten, die der Ablenkung dienen, verlernen können, wenn wir es tatsächlich wollen und dementsprechend handeln. „Es ist zu einfach, zu behaupten, dass sich Technologie schädigend auf unser Gehirn auswirkt“, sagt er. „Natürlich spielt sie eine Rolle. Selbst wenn man aber komplett auf sie verzichten würde, gäbe es immer noch genügend Ablenkungsquellen.“
Bei der Suche nach Ablenkung wirkt eine große emotionale Komponente mit. „Zeitmanagement ist Schmerzbewältigung“, sagt Eyal. Wenn man sich unzufrieden fühlt, sucht man nach Ablenkung, um so diesem unangenehmen Gefühlen zu entkommen. Mit der Zeit wird es zur Gewohnheit, das Telefon in die Hand zu nehmen oder Audible einzuschalten, um auf diese Weise Langeweile zu vermeiden.
Eyal hat eine Methode namens ACT entwickelt – was für Akzeptanz- und Commitment-Therapie steht –, mit der man lernen kann, mit dem unbehaglichen Gefühl, mit den eigenen Gedanken allein sein zu müssen, umzugehen. Egal, ob du wieder zu deiner Konzentration zurückfinden oder dir einfach nur etwas Zeit zum Nachdenken gönnen willst: Dem Experten zufolge ermöglicht ACT es, dein Gehirn neu zu vernetzen. So kannst du der Versuchung, dich abzulenken, widerstehen.
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Der erste Schritt besteht darin, dein Unbehagen zu bemerken, das sonst zu Ablenkung führen würde, indem du ein „Trigger-Tagebuch“ führst. Vielleicht verschiebst du ja zum Beispiel eine besonders monotone Arbeitsaufgabe immer wieder durch gedankenloses Scrollen auf Twitter. Wenn du deine Gedankengänge schriftlich festhältst, hast du so die Möglichkeit, zu erkennen, welches Ablenkungsverhalten wie oft passiert.
Der nächste Schritt wird dir bestimmt nicht besonders gefallen. Deine Aufgabe ist es nun, das Gefühl auszuhalten und es zu hinterfragen. „Die meisten Menschen empfinden dabei Selbstverachtung oder geben sich selbst die Schuld dafür, dass sie nach Ablenkung suchen“, sagt Eyal. „Stattdessen musst du jetzt mit der Versuchung klarkommen und beobachten, wie es dir dabei ergeht.“
Der dritte Schritt besteht darin, während dieser triggernden Momente achtsam zu sein. Wenn du also das nächste Mal nach Ablenkung suchst – sei es mithilfe von Instagram, Netflix oder deines Kühlschranks –, solltest du dir mit der 10-Minuten-Regel behelfen. „Ich sage mir, dass mein Impuls zwar in Ordnung ist, ich aber nicht sofort darauf reagieren muss. Stattdessen warte ich zehn Minuten ab“, erklärt Eyal. Psycholog:innen nennen diese Methode „Urge Surfing“ (von Engl. „urge“, also „Verlangen“). Stell dir dein Verlangen wie eine Welle vor, die du surfst – zuerst nimmt sie an Intensität zu, dann erreicht sie ihren Höhepunkt und klingt schließlich ab.
Um den Impuls, deiner Langeweile entkommen zu wollen, zu überwinden, musst du dir besondere Mühe geben. Schalte deine Push-Benachrichtigungen aus, entferne Apps, die deine Aufmerksamkeit nur unnötig auf sich ziehen, von deinem Home Screen und sei wählerisch, wenn es ums Teilnehmen an Konversationen innerhalb der Hunderten Gruppen auf WhatsApp geht, denen du angehörst. Apps wie SelfControl und BlockSite schränken den Zugriff auf Websites ein und können ebenfalls zu mehr telefonfreier Zeit anregen.
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Schließlich schlägt Eyal vor, uns Zeit für „Zugkraft“ zu nehmen. Das bedeutet, zu entscheiden, was du in unterschiedlichen Bereich deines Lebens erreichen willst – in Beziehungen, beruflich und privat – und täglich Zeit für jedes einzelne Ziel einzuplanen. „Das ist gerade jetzt besonders wichtig, da es uns an Struktur fehlt“, sagt er. „Wir brauchen aber wieder mehr Pläne und Muster. So können wir wieder für etwas Routine in unseren Leben sorgen.“
Plane also Zeit für folgende Dinge ein: deine beruflichen Pflichten, ein weiteres Zoom-Gespräch mit deiner Familie, dein nächstes Work-out und ein Stündchen, in dem du darüber nachdenken kannst, was du wirklich denkst und deine innere Stimme wiederentdecken kannst. In einer Zeit, in der Verschwörungstheorien und alternative Fakten weit verbreitet sind, ist es wichtiger denn je, in der Lage zu sein, kritisch du denken. Dir etwas Zeit zu nehmen, um dich mit deinen eigenen Gedanken zu beschäftigen und herauszufinden, was deine eigentlichen Gedanken sind, und nicht nur das, was die anderen sagen, nachzuplappern, ist nicht nur wichtig, sondern entscheidend.
Wenn du danach beschließt, dass deine Unterwäsche ruhig unorganisiert bleiben kann, ist das bestimmt nicht das Ende der Welt, sondern bloß eine Sache weniger auf deiner To-do-Liste.
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