Uns allen wurde schon mal eine Lüge aufgetischt, die so absurd war, dass wir noch heute darüber reden. Als ich mich im Büro nach genau solchen Storys umhörte, wurden mir demnach auch einige bizarre Geschichten erzählt. Eine kleine Auswahl:
„In meiner Klasse gab es damals ein Mädchen, die behauptete, ihr Bruder sei der Helikopter-Pilot der Backstreet Boys.“
„Ich habe eine Freundin, die ab und zu die absurdesten Lügen erzählt. Einmal hat sie behauptet, sich im Ausland einen tödlichen Parasiten eingefangen zu haben. Die Story zog sie ewig durch. Sie ist bis heute davon überzeugt, dass der Parasit in ihr lebt. Dabei ergab ihre Geschichte nie Sinn.“
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„Ein Typ hat mir mal erzählt, ihm gehöre eine große Sushi-Restaurantkette, bevor er versuchte, mich rumzukriegen. Ein paar Monate später kam er wegen Betrugs in Gefängnis und landete damit auf der Titelseite einer Zeitung.“
„Ich hatte einen Ex, dem ich nach der Trennung mal auf der Straße begegnete. Ich fragte ihn, wo er jetzt lebe, und er tischte mir direkt eine Lüge auf: Er zeigte auf das Gewerbegebäude, vor dem wir standen, und sagte: ‚Hier.‘ Das war eindeutig kein Wohnhaus, aber er blieb hartnäckig bei der Lüge, also hakte ich das Thema ab. Seine Lügen waren einfach so krass absurd.“
Das ist die Art von Lüge, die zwar absolut abwegig klingt, uns aber trotzdem mit ganz ernster Miene erzählt wird. „Normale“ Lügen sind das nicht; wenn wir lügen, tun wir das meist, um jemanden (auch uns selbst) zu schützen, einer Strafe zu entgehen oder uns ein Gespräch zu erleichtern. Krankhaftes (oder „pathologisches“) Lügen ist hingegen deutlich schwieriger zu erklären.
Das geht nicht nur uns so, sondern auch Psychologie-Expert:innen. In vieler Hinsicht scheint es unmöglich, krankhaftes Lügen klar zu definieren. In unserer digitalen Welt ist das Lügen noch dazu umso leichter, weil es uns auf virtueller Ebene scheinbar einfacher fällt als von Angesicht zu Angesicht; dadurch ist es deutlich schwieriger, die Absurditäten aufzudecken, die das Ego stärken oder den eigenen Narzissmus befeuern sollen. Um das Phänomen der „Lügensucht“ besser zu verstehen, haben wir uns damit ein bisschen beschäftigt – und Empfehlungen dazu gesammelt, was du tun kannst, wenn du glaubst, jemand in deinem Leben könnte davon betroffen sein.
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Kurz gesagt ist die „Lügensucht“ ein Zwangsverhalten, bei dem die offenbar grundlosen Lügen keinen eindeutigen persönlichen Vorteil bringen oder in keinem Verhältnis zu diesem Vorteil stehen. Die Psychologin Dr. Patapia Tzotzoli erklärt: „Das Verhalten scheint das Ergebnis einer verinnerlichten Motivation zu sein – zum Beispiel, um das Selbstbild zu stärken, sich zu verteidigen oder dem eigenen Narzissmus zu folgen. Menschen, die zwanghaft Lügen erzählen, haben nachweislich Schwierigkeiten damit, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Oft lässt sich dann beobachten, dass die Lüge irgendwann die Oberhand gewinnt und der:die Lügende die Kontrolle über die eigenen Lügen verliert.“
In der Wissenschaft nennt sich das pathologische Lügen auch „Mythomanie“ oder „Pseudologia phantastica“, doch hat sich im Volksmund der Begriff der „Lügensucht“ durchgesetzt. Der deutsche Arzt Dr. Anton Delbrück war 1891 der Erste, der dieses Zwangsverhalten beschrieb, doch ist sich die Wissenschaft bis heute nicht einig, ob die Lügensucht eine eigenständige Diagnose oder ein Symptom anderer Störungen ist. Patapia meint dazu: „Wir brauchen definitiv weitere Untersuchungen, um die Lügensucht klarer und wissenschaftlicher zu definieren.“
Nach heutigem Stand ist demnach immer noch umstritten, ob die Mythomanie als eigenständige psychiatrische Erkrankung anerkannt werden sollte. „Sie wird weitestgehend als Symptom anderer Erkrankungen empfunden. Die üblichen Verdächtigen sind beispielsweise Borderline-, narzisstische oder antisoziale Persönlichkeitsstörungen. Die Lügensucht kann auch Symptom einer Frontotemporaldemenz, des Münchhausen-Syndroms, einer Alkoholsucht oder eines Hirnschadens sein“, erklärt mir Patapia.
Weil die Lügensucht als Symptom so vieler verschiedener Erkrankungen infrage kommt, ist auch die Motivation der Lügen (und die Sicht der lügenden Person auf das eigene Verhalten) immer eine andere. Dennoch scheint es biologische Gemeinsamkeiten zwischen Betroffenen zu geben. 2005 befassten sich Forschende der University of Southern California mit möglichen strukturellen Abnormitäten in den Gehirnen „betrügerischer Individuen“ und fanden heraus, dass die „Lügenden einen 22- bis 26-prozentigen Zuwachs der präfrontalen weißen Substanz sowie eine 36- bis 42-prozentige Reduktion im Verhältnis der weißen und grauen Substanz im präfrontalen Cortex aufwiesen, verglichen mit antisozialen sowie normalen Kontrollgruppen“. Eine frühere Studie von 1988 ergab, dass 40 Prozent der bekannten Fälle der Pseudologia phantastica Abnormalitäten des zentralen Nervensystems aufwiesen, beispielsweise „Epilepsie, abnormale Hirnstromkurven, ADHS, Kopftraumata oder Infektionen des zentralen Nervensystems“. Kurz gesagt: Es gibt durchaus Hinweise darauf, dass die Gehirne der Lügenden anders „verkabelt“ sein könnten.
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Auch die Erziehung und Persönlichkeit könnten dabei eine große Rolle spielen. 30 Prozent der Teilnehmer:innen der Studie von 1988 hatten „ein chaotisches häusliches Umfeld, in dem ein Elternteil oder ein anderes Familienmitglied eine geistige Störung aufwies“. Und wie Patapia anmerkt, bringen die Lügen zwar häufig keinen offensichtlichen materiellen Vorteil, erfüllen aber doch eben oft einen inneren, psychologischen Zweck, der die lügende Person befriedigt oder erleichtert, indem der eigene Narzissmus bedient wird oder Unsicherheiten kaschiert werden.
Diese möglichen Faktoren, die hinter dem Verhalten der lügenden Person stecken können, erleichtern es Außenstehenden, die Situation zu begreifen – vor allem, wenn es dafür keine rationale Erklärung zu geben scheint. Das ging auch Jenny* so, die sich eine Wohnung mit einer jungen Frau teilte, die regelmäßig und scheinbar ohne Grund Lügen erzählte. „Unsere Mitbewohnerin schrieb uns, sie habe das Haus verlassen, als wir alle gerade zu Hause saßen und vor dem Clubbesuch ein bisschen was tranken. Auf dem Weg in den Club warfen wir dann einen Blick durchs Fenster in ihr Zimmer – und sie saß einfach auf ihrem Bett und starrte die Wand an“, sagt sie. „Ein anderes Mal erzählte sie uns, sie hätte unsere gerade gekochte Lasagne nicht gegessen, obwohl wir zu zweit in der Wohnung waren. Außerdem behauptete sie, Alex James aus der Band Blur sei ihr Patenonkel, und sie beharrte darauf, mein Parfum nicht geklaut zu haben (obwohl sie am selben Tag danach zu duften anfing).“
Letztlich sorgt die Suche nach einer Erklärung für solches Verhalten – ob nun als Symptom oder als eigenständige Erkrankung – aber dafür, dass wir vergessen, dass die Motivation dahinter von Person zu Person variieren kann. Und genau deshalb braucht jede:r Betroffene auch ganz individuelle Hilfe. Die Psychologin Dr. Nicolina Spatuzzi betont, wie wichtig es sei, das Lebensumfeld jeder betroffenen Person zu betrachten und zu überlegen, aus welchen Situationen heraus diese Lügensucht womöglich entstanden sein könnte. „Das aus schwierigen Umständen geborene Leid beeinträchtigt womöglich die innere Fähigkeit einer betroffenen Person, die eigene Vergangenheit zu bewältigen. Bei manchen Menschen entwickelt sich das Lügen dann aus dem Wunsch heraus, sich selbst vor ihrer unerträglichen Realität zu schützen. In der klinischen Behandlung würden wir dann versuchen, einen sicheren Raum zu schaffen, um das näher zu beleuchten.“
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In einer idealen Welt bekäme jede krankhaft lügende Person ebensolche Hilfe. Das ist aber leider nicht immer möglich – und als Konsequenz kann sich solches Verhalten negativ auf die persönlichen Beziehungen der Betroffenen auswirken. Das heißt aber noch nicht, dass für sie sämtliche Hoffnung verloren ist. Fällt dir selbst jemand in deinem Umfeld auf, der:die zwanghaft Lügen zu erzählen scheint, solltest du dich daran erinnern, dass dieses Verhalten nichts mit dir zu tun hat, meint Patapia. „Das hilft dir dabei, eine mentale Distanz zu bewahren und dich selbst davor zu schützen, dich durch das Gesagte beeinflussen zu lassen.“
Natürlich kannst du versuchen, die lügende Person aktiv vom Lügen abzuhalten, indem du ihr klarmachst, dass du nicht an unehrlichen Gesprächen interessiert bist; darauf könnte dein Gegenüber aber wütend reagieren oder sogar versuchen, die Lügen zu leugnen. „Vielleicht wäre es eine bessere Strategie, das Gespräch mithilfe von Humor zu entschärfen und in andere Richtungen zu lenken“, empfiehlt Patapia. „Wenn dir diese Person nah steht und ihr eine starke Beziehung zueinander habt, kannst du versuchen, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Konsequenzen dieses Verhalten in ihrem eigenen Leben hat, indem du echte Beispiele anführst. Vermeide dabei, das Verhalten zu verurteilen oder dein Gegenüber bloßzustellen, sondern ermutige ihn oder sie dazu, sich professionelle Hilfe zu suchen.“
*Name wurde von der Redaktion geändert