Es war ein Samstag, ich laufe durch meinen Kiez, die Sonne kitzelt meine Nase, ich atme tief ein und aus – und lasse die Seele baumeln, hier und jetzt. Am Kiosk hole ich mir meine liebste Wochenendzeitung und kann es kaum erwarten, mich damit in die Sonne zu fläzen. In einem Artikel im „Freitag“ kommt die Autorin erst in den letzten Zeilen zum Punkt, und bekennt, nach Ausflüchten über Waldspaziergänge und Ratschlägen von Medienpädagogen, dass das eigentliche Problem doch da beginne, wo das Geschäftliche immer weiter in die private Sphäre dringe. Wir nehmen die Arbeit mit nachhause, überallhin. Sie begleitet uns in unserer Hosentasche.
Genau da beginnt auch der Text, den der Philosoph Gilles Deleuze, schon 1990 mit „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ betitelt, und den Christoph Menke und Juliane Rebentisch zwanzig Jahre später als ersten Beitrag für ihren Band „Kreation und Depression“ ausgewählt haben. Deleuze diagnostiziert darin die Krise der Disziplinargesellschaften, wie sie Michel Foucault für das 18. und 19. Jahrhundert beschrieben hat. Damals habe man sich noch von Milieu zu Milieu bewegt, und sei in seinem Leben erst von der Familie, in die Schule, weiter in die Fabrik gewechselt. Diese Milieus aber befinden sich laut Deleuze in der Krise. Die neue Regierungsform nennt er Kontrollgesellschaften. In ihnen löst die permanente Weiterbildung die Schule ab. Und auch wenn er diese Sätze 1990 formuliert – recht hat er doch, der Philosoph.
Einen Abschluss erlangen kann man zwar schon, aber ob man damit auch einen Job bekommt, ist ungewiss. Deshalb heißt es: weiterlernen. Und wer sich weigert, ein Leben lang dazuzulernen, der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Deleuze fasst zusammen: „In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen, (...) während man in den Kontrollgesellschaften nie mit etwas fertig wird.“ Weiter geht es in Deleuzes Diagnose: Er beschreibt das Ablösen der Fabrik durch das Unternehmen, welches nun nicht mehr wie eine Seele funktioniere, sondern wie ein Gas. Und irgendwie muss man doch an dieser Stelle wieder aufhorchen und – #digitaldetox – denn tatsächlich ist die Arbeit ein Gas, welche sich durch unser Smartphone einschleicht und mitsamt der erforderten ständigen Erreichbarkeit in alle Lebensbereiche eindringt. Diese Zeitdiagnose könnte nun ewig so weitergehen. Aber in ihrem Vorwort, fassen Juliane Rebentisch und Christoph Menke das Phänomen, das an die, von Deleuze vorausgesagten, Veränderungen in unserer Gesellschaft anknüpft – und diese noch zuspitzt – gekonnt zusammen: „Man gehorcht heute nicht mehr, indem man sich einer Ordnung unterwirft und Regeln befolgt, sondern indem man eigenverantworlich und kreativ eine Aufgabe erfüllt.“
Die steigende Zahl der im Zweig der creative industries Arbeitenden, und der Blogs, die zeigen, wie man ein kreatives, modisches Leben führt, veranschaulicht dieses Modell. Die Akteure und Blogger sind kreativ in ihrer Arbeit. Sie verwirklichen sich selbst – natürlich komplett in flexibler Eigenverantwortung. Kontrolle? Nö!
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz, beschreibt in seinem Beitrag für den Band, das gegenwärtige Phänomen der „Normalisierung der Kreativität“. Knapp zusammengefasst könnte man also sagen: Der Künstler, der Alltagsgegenstände als Readymades ins Museum stellt und teuer verhökert und sich selbst und die Kunst in Frage stellt, zu einer Zeit, in der Ideen, Konzepte und Performances mehr Wert sind als ein Ölgemälde als Unikat mit Signatur, ist schon lange kein Genie mehr. Früher! Ja früher, da gab es noch eine Avantgarde, da waren Künstler in Nischen- oder Avantgardebewegungen tätig und kritisierten bürgerliche Normen und Regeln. Heute ist das anders, und ein bisschen hat Beuys mit seiner Aussage von 1970 doch recht – „jeder Mensch ein Plastiker“ – denn heute sind wir alle Künstlergenies. Das was zählt, ist die künstlerische Art der Selbsdarstellung, nicht die Produktivität. Wir erleben Inspirationserlebnisse auf Tumblr, erstellen einheitliche Farb- und Stilwelten auf Instagram, kuratieren unsere eigene Ausstellung auf Pinterest – oder einfach nur unsere flexiblen Arbeitszeiten. Wir suchen uns selbst, sind nicht angestellt – sondern berufen – dokumentierten das stolz und stellen uns authentisch und erfüllt als Individuen dar. Die wir doch auch sind. Denn wir sind frei. Wir sind kreativ.
Klingt schön, tatsächlich aber sind wir kontrolliert, und unsere Selbstverwirklichung organisiert, wie Sozialphilosoph Axel Honneth schreibt. Wir handeln auf Grundlage von ökonomischen Maßnahmen, die den Markt deregulieren. Was hat Kreativität in solch einer Gesellschaft noch mit Freiheit zu tun? Wer kritisiert das System, wenn Künstler schon selbst mitten drin, und ein Teil des Gefüges sind? Und was, wenn man an der Forderung, einfach nur authentisch man selbst sein zu sollen, scheitert?
Andere Fragen, und Antworten darauf, aus soziologischer, philosophischer, kulturtheoretischer und historischer Perspektive bekommen wir aus Juliane Rebentischs und Christoph Menkes Band „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus.“ Ein Must-Read für alle Kreativen. Also für uns alle.
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