Meine schlimmste Angst ist wahr geworden. Mein Fahrrad hatte eine Reifenpanne und ich musste es nach Hause schieben. An sich nicht so dramatisch, doch dann sah ich, dass die Batterie meiner Kopfhörer alle ist. Oh shit. Und jetzt? Normalerweise werfe ich immer, wenn ich länger als 30 Sekunden laufen muss einen Podcast an. Bis zu meiner Wohnung war es eine halbe Stunde Fußweg… Wie sollte ich 30 Minuten Stille nur überleben? Worüber sollte ich nachdenken? Und dann wurde mir auf einmal bewusst: Ich hatte absolut überhaupt gar keine Lust nachdenken müssen.
Ich habe mich in eine richtige Podcast-Fanatikerin verwandelt. Ich höre sie beim Spazieren gehen. Ich höre sie beim Zähne putzen. Ich höre sie sogar beim Müll rausbringen! An Wochenenden, an denen keine neuen Folgen rauskommen, wünsche ich mir fast, dass es endlich Montag ist. Als My Dad Wrote a Porno, mein Lache-bis-du-komisch-von-den-anderen-Fahrgästen-in-der-U-Bahn-angeschaut-wirst-feel-good-Podcast, Anfang des Jahres eine Staffel abschloss, kam in mir dieses Gefühl der Leere auf, die man fühlt, wenn die beste Freundin erzählt, sie zieht ins Ausland.
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Früher konnte ich stundenlang mit Tagträumen verbringen – wie ein Blick auf meine alten Schulzeugnisse sofort verrät. Aber jetzt jagt mir der Gedanke, einfach nur so aus dem Fenster zu schauen und über Gott und die Welt nachzudenken, richtig Angst ein. Ich brauche pausenlos Ablenkung. Und dank der Podcasts auf meinem Smartphone bekomme ich die normalerweise auch immer.
Laut einer Ofcom-Studie hat sich die Zahl an Podcast-Hörer*innen (von denen etwa die Hälfte unter 35 Jahren alt ist) seit 2013 verdoppelt. Haben all diese Menschen genau wie ich auch auf unerklärlicherweise Angst, allein mit ihren Gedanken zu sein? „Ich höre Podcasts, damit ich bei einfachen Aufgaben – wie abwaschen, Wäsche waschen oder duschen – nicht zu viel nachdenken“, sagt Charley, 27. „Als ich mich vor ein paar Monaten von meinem Freund getrennt habe, habe ich eine komplette Woche damit verbracht, Podcasts zu hören, damit meine Gedanken nicht ständig zu ihm zurückwandern.” Katie, 26, geht es ähnlich. Sie nutzt Podcasts, um sich von ihren Gefühlen abzulenken. „Meine Oma ist vor kurzem gestorben und ich habe Podcasts gehört, um meiner Trauer zu entkommen“, erzählt sie. „Es fiel mir schwer, mich nachts zu entspannen also habe ich mich in Desert Island Discs gestürzt.“
Meine eigene Abhängigkeit von Podcasts ist auch immer krasser, wenn es mir gerade nicht so gut geht. Sie halten mich vom sinnlosen Grübeln ab. Coach und Beraterin Sally Brown denkt, Podcasts haben eine unwiderstehliche Anziehungskraft für Millennialköpfe. „Viele Millennials denken viel zu viel über alles nach“, sagt Brown und erklärt, Podcasts unterbrechen die Gedankenspiralen. Sie sind wie eine Leine für die immer wieder abdriftenden Gedanken – etwas, auf das du dich fokussieren kannst, damit du nicht ins Grübeln verfällst.
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Immer mehr Millennials leiden unter Angststörungen. Es ist also kaum verwunderlich, dass wir uns zu einem Medium hingezogen fühlen, dass eine konstante Ablenkung verspricht und jederzeit verfügbar ist.
Catherine zählt zu den Betroffenen. Sie hat das Gefühl, Podcasts reduzieren ihre Symptome. „Es gibt bestimmte Podcasts, die wie ein Beruhigungsmittel wirken, wenn ich gestresst bin“, so die 37-Jährige. „Es gibt ein paar Podcastmoderator*innen, die ich besonders gern höre, weil ihre Stimme beruhigend auf mich wirkt. Außerdem leide ich an Schlafstörungen und manchmal nutze ich Podcasts, um besser einschlafen zu können.“
Doch so hilfreich Podcasts auch sein mögen, es wird immer mal wieder Zeiten geben, in denen wir sie nicht hören können – zum Beispiel wie an dem verhängnisvollen Tag meiner Reifenpanne. Und wenn du praktisch süchtig danach bist, sind das die Situationen, in denen es brenzlig werden könnte. „Ich fühle mich den gesamten Arbeitstag unwohl, wenn ich das Bedürfnis habe, einen Podcast zur Entspannung hören zu wollen, es aber nicht machen kann“, sagt Charley. „Ich habe Angst, die Stille könnte zu ängstlichen oder überemotionalen Gedanken führen, die alles andere als hilfreich sind.“ Catherine geht es genauso: „Wenn ich meine Kopfhörer vergessen habe, kaufe ich mir unterwegs neue, weil ich nervös werde, wenn ich keine dabei habe“, gesteht sie. „Wegen meiner Angststörung können längere Phasen der Stille zu störenden Gedanken führen.
Vor kurzem hat mich mein Freund zu einem Konzert von Instrumentalmusik*innen mitgenommen, bei dem praktisch gar nicht gesprochen wurde. Als die Lichter ausgingen und die ersten Töne einsetzten, spürte ich, wie sich die Panik in mir ausbreitete. Ich wusste, ich hatte keine andere Wahl als meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Am Anfang war es extrem unangenehm, doch irgendwann begann ich, mich zu entspannen – und meine Gedanken fingen an, mit der Musik zu fließen. Es war fast schon hypnotisierend. Ich hatte gar kein Zeitempfinden mehr und war erstaunt, dass ich es tatsächlich schaffte, so lange einfach nur dazusitzen und meinen Gedanken nachzuhängen – und zwar ohne jeden Zwang. Nach dem Konzert fühlte ich mich überraschend energiegeladen.“
Sally Brown glaubt, Erfahrungen wie diese sind unglaublich wichtig. Sie sagt, den Kopf mit der Stimme einer anderen Person zu füllen, sorgt dafür, dass wir die eigene Stimme nicht mehr hören. Wenn du dir deiner automatischen Denkmuster nicht bewusst bist, fühlst du dich vielleicht manchmal down, weißt aber gar nicht so richtig warum. Deswegen ist es ratsam, ab und zu mal einen Moment innezuhalten, denn dann beginnen die Selbstgespräche im Kopf. Klar können die auch mal negative, ungesunde Gedanken mit sich bringen. Doch nur so bekommen wir überhaupt erst die Chance, uns von ihnen zu verabschieden – und zwar in dem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart lenken, so Brown.
Vielleicht ist es also an der Zeit, dass wir uns wieder mit unseren inneren Monologen anfreunden. Für mich persönlich heißt das, dass ich dabei bin, die stillen Momente schätzen zu lernen und die Gedanken zu akzeptieren, die in meinem Kopf auftauchen. Komplett verabschieden werde ich mich von Podcasts aber sicher nicht so schnell, aber ich versuche, jeden Tag einen kurzen Spaziergang durch den Park zu machen – ohne Kopfhörer. Und ich habe angefangen, Yoga zu machen, was super ist, weil es für eine kurze Zeit meine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Es gibt dann keine Ablenkungen und ich bin ganz im Hier und Jetzt. Okay, okay. Ab und zu denke ich schon mal darüber nach, woher der herabschauende Hund eigentlich seinen Namen hat oder ob alle Anfänger*innen so schrecklich unbeweglich sind wie ich. Aber das ist schon in Ordnung. Wie sich herausgestellt hat, sind meine Gedanken gar nicht so furchteinflößend, wie ich gedacht habe.