Ich erinnere mich noch ganz genau an die Karte, die ich von einer Freundin zum 22. Geburtstag bekam – mit der Klarheit, mit der du dich oft an alles entscheidende Momente in deinem Leben zurückerinnerst, die dir währenddessen gar nicht so wichtig vorkamen. Auf der Vorderseite der Karte war ein hübsches Foto von einem langen amerikanischen Highway im Sonnenschein zu sein. Der Asphalt reichte durch eine ausgedörrte Wüste bis zum Horizont. Links vom Highway stand ein riesiges Schild. Darauf stand: „Destination: happiness“.
Ich war damals noch an der Uni und mein junges Erwachsenenleben erstreckte sich, wie dieser Highway, endlos vor meinen Augen. Nichts war unmöglich. Alles schien machbar. Und trotzdem: Obwohl ich seit dieser Karte auf genau dieses Ziel hinarbeite – happiness, Glück –, bin ich ihm seitdem gefühlt keinen Schritt näher gekommen, und das nach mehr als einem Jahrzehnt.
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Damit will ich überhaupt nicht behaupten, ich sei unglücklich. Nein, eher im Gegenteil. Ich war früher rückblickend seltener wirklich glücklich und fühle mich heute, mit 34 Jahren, viel freier als damals – weil ich die Erwartungslast abgelegt habe, die man in den 20ern mit sich herumschleppt.
Ich will damit sagen, dass sich dieses Glück – die ungetrübte, vollkommene Zufriedenheit, die wir (wenn wir den Life-Coaches dieser Welt glauben möchten) erreichen können, wenn wir nur hart genug dafür arbeiten oder ausreichend Geld dafür ausgeben – für mich als schwer fassbar erwiesen hat. Ich bin an diesem abstrakten Ziel, an dem alles immer toll, voller Optimismus und guter Laune ist, bisher nicht angekommen.
Und das geht nicht nur mir so; ich bin nicht die Einzige, die endlos nach einem Ort zu suchen scheint, von dem ich mir immer sicherer bin, dass er gar nicht existiert. Gerade während der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der unglücklichen Menschen in Deutschland laut dem jährlichen deutschen „Glücksatlas“ sogar verdoppelt; sie geben ihre Lebenszufriedenheit als schlecht oder mäßig an. Insbesondere junge Menschen (geboren ab 1995) sind davon betroffen.
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Wir sind uns unserer Makel bewusst – ganz egal, wie sehr wir mit „Selbstliebe“ und „Selfcare“ dagegen anzukämpfen versuchen, weil wir diese Makel nicht akzeptieren können. Stattdessen setzen wir das „Finden vom Glück“ als weiteren Punkt auf unsere nie endende To-Do-Liste.
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Wie es heute so oft der Fall ist, tritt die Online-Kultur der „Selbsthilfe“ in die Lücke, die ein strukturelles Problem (wie die fehlende Investition in die öffentliche Gesundheit) hinterlässt. Wenn du auf Instagram nach #happiness suchst, findest du dazu über 169 Millionen Beiträge. Auf TikTok bringen es Posts mit demselben Hashtag auf 18 Milliarden Views. Es gibt in sozialen Netzwerken auch zahlreiche „happiness coaches“, die ihren Followern versprechen, sie ins emotionale Nirwana zu führen – wo es sich meiner Vorstellung nach so anfühlen muss, als seist du jeden Tag im Urlaub und hättest nie finanzielle Sorgen.
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Aber was, wenn es genau diese Besessenheit vom Finden des Glücks ist – kombiniert mit dem Druck, den wir uns selbst machen, wenn wir es nicht finden –, die uns so unglücklich macht? Das Leben ist genauso wenig perfekt wie wir selbst. Wir sind uns unserer Makel bewusst – ganz egal, wie sehr wir mit „Selbstliebe“ und „Selfcare“ dagegen anzukämpfen versuchen, weil wir diese Makel nicht akzeptieren können. Stattdessen setzen wir das „Finden vom Glück“ als weiteren Punkt auf unsere nie endende To-Do-Liste.
Dr. Rafael Euba ist Psychiater und Autor von You Are Not Meant To Be Happy. So Stop Trying!. Er ist der Meinung, Glück sei ein menschliches Konstrukt und unser Versuch, es zu erreichen, vergeblich – weil wir einfach nicht dafür gemacht sind, konstant zufrieden zu sein (obwohl er durchaus findet, dass Geld, Drogen, Sex und Essen die Suche nach dem Glück angenehmer gestalten können).
Dr. Euba meint, der Wunsch nach endloser Zufriedenheit – von „Glücklichsein“ mal ganz abgesehen – widerspreche sogar unserem genetischen Aufbau, weil dieser Wunsch dafür sorge, dass wir uns nicht mehr so wachsam vor potenziellen externen Bedrohungen schützen würden.
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Es gibt natürlich Situationen, in denen dir positives Denken allein nicht helfen kann. Wenn du es dennoch versuchst, fühlst du dich danach nur so, als hättest du versagt.
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„Das Problem dabei ist“, erklärt er mir am Telefon, „dass unsere Vorfahren wussten, dass der Wunsch nach dem Glück kein realistisches Ziel war. Sie sorgten sich stattdessen um das Überleben, ein schlichteres, greifbareres Konzept. Heute haben wir uns aber die Fantasie gesponnen, wir könnten tatsächlich glücklich werden und es auch bleiben.“
Dennoch räumt Dr. Euba ein, dass der „Ehrgeiz zum Glücklichsein etwas ganz Natürliches ist“. Wer wäre immerhin nicht gerne glücklich? Das Problem ist, dass uns dieses grundlegende menschliche Empfinden inzwischen als emotionaler Zustand verkauft wird, der „erreichbar“ ist, wenn wir dies oder jenes tun (und nur dann).
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Organisierte Religionen waren einst die größten Treiber dieser Message. Ihr modernes, quasi-spirituelles Pendant ist das „Selbsthilfe“-Buch. Denk nur mal an den Bestseller The Secret – Das Geheimnis. Es hat Millionen von Leuten die Idee verkauft, positives Denken und Optimismus allein würden reichen, um schwierige Zeiten zu durchstehen und unsere eigenen Gegebenheiten zu ändern. Diese Vorstellung reicht bereits, um dich zu deprimieren, weil es natürlich Situationen gibt, in denen dir positives Denken allein nicht helfen kann – zum Beispiel bei der Krankheit oder dem Tod eines geliebten Menschen. Wenn du es dennoch versuchst, fühlst du dich danach nur so, als hättest du versagt.
Und selbst wenn du, so Dr. Euba, doch irgendwie einen Zustand emotionaler Zufriedenheit erreichen solltest, der sich wie Glück anfühlt, kannst du sicher sein: Du bist immer noch ein Mensch – und eine emotionale Achterbahnfahrt ist fester Bestandteil dieser Erfahrung.
„Wir sind Kinder der Natur“, erklärt Dr. Euba. „Wir glauben gern, wir haben eine spezielle Rolle auf diesem Planeten und hätten vielleicht sogar eine große Aufgabe, irgendetwas zu erreichen, was über unsere natürliche Mission hinausgeht – über das Überleben und Fortpflanzen. In der Hinsicht unterscheiden wir uns überhaupt nicht von Vögeln, Katzen oder anderen Kreaturen auf diesem Planeten.“
„Sowohl unsere positiven als auch negativen Emotionen zielen darauf ab, unser Überleben so gut wie möglich zu sichern oder zumindest die Möglichkeit des Sterbens abzuwenden“, erklärt er. „Ich schlage daher vor, wir sollten die Mission des Glücklichseins aufgeben und akzeptieren, dass unsere alltäglich Existenz zwangsläufig aus negativen und positiven Gefühlen bestehen wird, die sich auf chaotische Art zusammentun.“
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Während das Leben allein für Millionen von Menschen wegen der steigenden Inflation gerade schwieriger wird, hat Dr. Eubas Sicht auf das Glück etwas Befreiendes – nicht nur für uns als Individuen, sondern für uns alle als Gemeinschaft.
Aber was genau ist denn „Glück“ überhaupt? Forschende beschreiben es häufig als die selbst angegebene Zufriedenheit einer Person mit ihrem Leben. Und da Stress, Angst und Depression – die Gegenteile des Glücks also – Reaktionen auf Bedrohungen unseres Überlebens sind, ist es völlig normal, wenn wir uns gerade unzufriedener oder gar unglücklich fühlen.
Wenn du aktuell unglücklich bist, ist das auch kein Zeichen deines Versagens. Es ist einfach ein Beweis dafür, dass du auch nur ein Mensch bist. Wenn du das anerkennst (und dich damit von der Erwartung löst, Glück ließe sich „erreichen“), wirst du dich nicht nur besser fühlen, sondern auch Möglichkeiten finden, dich mit anderen Leuten zusammenzutun und die Last der gemeinsamen Probleme zu tragen, mit denen wir uns alle gerade herumschlagen. Und auch das kann dir für einen Moment ein Glücksgefühl bescheren. Studien zufolge führt der beste Weg zur Zufriedenheit – egal, wie kurzweilig die sein mag – nämlich nicht über Social-Media-Coaches, sondern über echte soziale Bindungen. Als mir meine Freundin also vor über zehn Jahren diese Karte zum Geburtstag schenkte, glaubte ich wohl, die Ankunft im „Glück“ sei eines Tages durchaus möglich. Ich musste lernen, dass Glück kein Ziel ist, das du irgendwann erreichst. Das war aber keine enttäuschende Erkenntnis – sondern eine befreiende. Ich fing an zu verstehen, dass jeder Moment der Freude – wie lange er auch währen möge – etwas ist, was ich in vollen Zügen genießen sollte, anstatt mich verzweifelt daran festzuklammern.
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