Alles cool? Von wegen! Stress ist allgegenwärtig. Für viele Menschen ist er ein alltäglicher Zustand, ganz besonders in Zeiten einer Pandemie. Studien zeigen, dass sich unser Stress-Level seit dem Ausbruch von Corona erhöht hat und psychische Probleme zugenommen haben. Die größere psychische Belastung hat vor allem Angststörungen und Depressionen zur Folge.
Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie ernst und kräftezehrend Stress sein kann. Klar, so wie viele andere von uns, genieße auch ich das langsamere Lebenstempo. Mich quälen aber oft noch Sorgen rund ums Thema Gesundheit. Wenn ich sehr gestresst bin, schlafe ich schlecht, kann mich nicht konzentrieren, bin gereizt und der Tag zieht sich ewig hin. Gleichzeitig habe ich aber auch erkannt, dass mich Stress antreibt. Nach 16 Corona-Monaten habe ich gelernt, ein wenig Stress in meiner Routine zu schätzen. Während mir meine Krankheitsängste, meine Angst davor, dass ich meinen Job verlieren könnte, und die allgemeine finanzielle Unsicherheit ordentlich zusetzen, haben sich „normale“ Stressfaktoren aber positiv auf meine Produktivität ausgewirkt: Auch im Falle eines vollgepackten Terminkalenders finde ich jetzt einen Weg, um alles unter einen Hut zu kriegen. Wann immer ich nun eine lange To-do-Liste abhaken kann, fühle ich mich gut, produktiv und motiviert: Stress sei Dank.
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Ist es möglich, dass ich trotz der unzähligen negativen Auswirkungen, die Stress auf mein Leben hat, süchtig danach bin?
Stress ist ein Teil der menschlichen Evolution. Er verursacht eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion, durch die unsere Aufmerksamkeit zunimmt, sich unser Herzschlag erhöht und unser Adrenalin-Pegel steigt. Für Höhlenmenschen war sie besonders hilfreich, da sie dank dieses Phänomens rechtzeitig weglaufen und so verhindern konnten, von einem Mammut zertrampelt zu werden. Obwohl diese Art von Gefahr nicht mehr unserer heutigen Realität entspricht, reagieren wir in stressigen Situationen trotzdem noch auf die gleiche Weise.
Wir alle wissen, wie sich Stress anfühlt. Weißt du aber auch, was er mit dir macht? Mit der Kampf-oder-Flucht-Reaktion geht ein beachtlicher Hormon-Cocktail einher: Norepinephrin, ein erhöhter Cortisol- und Adrenalinspiegel, Herzklopfen und Schweißausbrüche. So bereitet sich dein Körper nämlich auf eine mögliche anstehende Flucht vor.
Ist es möglich, diese Reaktion zu unserem Vorteil zu nutzen? Jodie Cariss, Therapeutin und Gründerin von Self Space, erklärt, dass es tatsächlich so etwas wie „guten“ und „schlechten Stress“ gibt. „Es gibt Stress, der vorteilhaft ist und motivierend wirkt, und Stress, der überwältigend ist und zu einem Burnout führt. Stress ist ein Energieschub, der vorgibt, was wir tun sollten.“
Wie Cariss erläutert, kann Stress in kleinen Dosen anregend sein und uns beim Erreichen unserer Ziele oder Erfüllen von Aufgaben helfen und sogar unser Gedächtnis verbessern. Um für „guten Stress“ in unserem Leben zu sorgen, so Cariss, müssen wir all die Dinge tun, auf die wir vergessen zu achten, wenn wir „schlechtem Stress“ ausgesetzt sind, wie z. B., ausreichend zu schlafen und genügend Wasser zu trinken. Wenn wir überfordert sind und unser Stress-Niveau wochen- oder monatelang erhöht bleibt, kann das zu Müdigkeit und Angstzuständen führen: „Bei schlechtem Stress sehen wir manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das bedeutet, dass wir die negativen Auswirkungen nicht bemerken.“
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Neil Shah ist der Gründer von International Wellbeing Insights und Chief De-Stressing Officer The Stress Management Society. Ich frage ihn, welche Folgen Dauerstress haben kann. „Wenn du ständig gestresst bist, gewöhnst du dich irgendwann an diesen Zustand und nimmst ihn als normal wahr. Das ist weder gesund, noch kann es auf Dauer aufrecht erhalten werden“, so Shah. Stress ist zwar nicht immer negativ, wenn er aber länger andauert, wird er zu einem psychischen und physischen Problem. Chronischer Stress kann energieraubend sein, Gedächtnisprobleme hervorrufen und Brustschmerzen, Akne, ein Reizdarmsyndrom, Depressionen und andere Probleme verursachen.
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„Uns kommt es normal vor, Stress zu haben und unter Druck zu stehen. Dazu sollte es aber eigentlich erst dann kommen, wenn wir von einem Tiger angegriffen werden.“
Neil Shah, Stress Management Society
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So, wie sich Stresssituationen voneinander unterscheiden, so sind auch die Reaktionen darauf von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Wir erleben Stress auf unterschiedliche Weise und gehen dementsprechend mit einer stressigen Situation um. Wie Shah erklärt, ist Stress eine innere Angelegenheit, verursacht durch die bewusste oder unbewusste Entscheidung, die wir in Bezug auf einen äußeren Umstand treffen. Er habe nichts mit den Umständen oder dem Ereignis an sich zu tun.
Deshalb lieben es manche Menschen, ich eingeschlossen, beschäftigt zu sein. Wie Cariss mir erklärt, „kann es zu dem suchthaften Drang führen, ständig beschäftigt sein zu wollen. Das hängt damit zusammen, dass unser Gehirn beim Erledigen von Aufgaben das Glückshormon Dopamin ausschüttet, wodurch wir uns gut fühlen.“ Diese Gefühle sind mit der Vorstellung verbunden, dass Beschäftigtsein gleichbedeutend mit Erfolg und das Gegenteil gleichbedeutend mit Misserfolg ist, was wiederum Stress erzeugt. Wir mögen es, busy zu sein, da es uns auch erlaubt, „negative“ Gefühle kurzfristig zu vergessen, sagt Cariss. Wenn wir jedoch zu weit gehen und das „Beschäftigtsein“ verherrlichen, kann das ganz schön gefährlich sein, da das zu einer Überforderung und irgendwann sogar zu einem Burnout führen kann.
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Wenn man bedenkt, was Stress so alles verursacht, ist es dann dennoch möglich, nach Stress süchtig zu werden? Stress macht nicht wirklich süchtig, erklärt Shah. Wir sind aber dafür desensibilisiert: „Uns kommt es normal vor, Stress zu haben und unter Druck zu stehen. Dazu sollte es aber eigentlich erst dann kommen, wenn wir von einem Tiger angegriffen werden“. Genau das macht den Unterschied zwischen „gutem“ und „schlechtem Stress“.
Wenn du, wie ich, das Gefühl hast, Stress zu brauchen, dann mach dir mal keine Sorgen, denn es gibt Möglichkeiten, um rechtzeitig auf die Bremse zu steigen. Der erste Schritt ist, dir einzugestehen, dass du dein Stress-Level deiner körperlichen und geistigen Gesundheit zuliebe senken musst.
Der beste Weg, um dieses Ziel zu erreichen, ist Shah zufolge Bewegung (als Gegenmittel zur Kampf-oder-Flucht-Reaktion). Sie ist ein ausgezeichnetes Stress-Ventil, da durch sie Glückshormone (auch bekannt als Endorphine) produziert werden. Außerdem erleichtert sie es uns, achtsam zu sein. Normalerweise geraten wir in Stress, wenn wir uns zu sehr auf die Vergangenheit oder die Zukunft konzentrieren. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit aber auf das „Hier und Jetzt“ lenken, kann sich unser Geist entspannen und wir sind in der Lage, neue Kräfte zu tanken. Wenn du mehr über dieses Thema erfahren möchtest, empfehle ich The Power of Now als Lektüre.
Eine weitere Möglichkeit, um Stress zu bekämpfen, ist das niederländische Konzept des Nichtstuns (zu Niederländisch: „niksen“). „Gib dir selbst die Erlaubnis, auch mal nichts zu tun. Schalte ab. Such dir ein Plätzchen in deiner Wohnung, vorzugsweise mit einem Fenster, schieb alle Ablenkungen beiseite und genieß einfach nur den Moment. Fang mit fünf Minuten an, steigere dein Nichtstun dann auf zehn, usw. Du wirst dich danach viel frischer fühlen und kannst dich so deinen Aktivitäten erneut voller Energie widmen.“
Das Wichtigste zuletzt: Versuch, herauszufinden, wann sich „schlechter Stress“ in dein Leben einschleicht. Cariss sagt, dass er sich durch Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, häufigeres Krankwerden, Kopfschmerzen und Reizbarkeit bemerkbar macht. Hast du mit einem dieser Symptome zu kämpfen, ist es an der Zeit, dich neu zu orientieren.
Den gesunden Mittelweg zu finden ist schwer, aber es ist möglich, Stress auf produktive Weise zu nutzen. Wenn du die oben genannten Tipps befolgst, Grenzen setzt und lernst, „Nein“ zu sagen, sorgst du für dein körperliches und geistiges Wohlsein. So wirst du auch akzeptieren können, dass dein Bestes gut genug ist, egal, wie die Situation auch sein mag.