Vielleicht liest du diesen Artikel in einem Café, vielleicht in der U-Bahn oder auf deinem Sofa. In jedem Fall stehen die Chancen nicht schlecht, dass deine Sinne gerade auf Hochtouren arbeiten. Deine Augen sehen die Wörter und Bilder, deine Ohren hören die Menschen um dich herum (oder die Autos, die vor deinem Fenster vorbeifahren), deine Nase riecht entweder eine Mischung aus Schweiß, Deo und Döner oder (wenn du Glück hast) einen angenehmen Raumduft.
Gleichzeitig verschiedene Sinneswahrnehmungen zu verspüren, ist an sich erst mal nichts Besonderes. Das machen wir alle. Doch bei etwa 4 Prozent der Bevölkerung geht das Gehirn sozusagen noch einen Schritt weiter: Bei Personen mit Synästhesie wird bei Reizung eines Sinnesorganes ein anderes miterregt, weshalb sie beispielsweise Personen eine bestimmte Farbe zuordnen oder Zahlen in bunten Farben sehen können (auch, wenn die Schriftfarbe schwarz ist).
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Apropos Zahlen: Eine genaue Ziffer der Menschen zu nennen, die über zusätzliche neuronale Verbindungen zwischen einzelnen Sinnen verfügen, ist nicht möglich. Warum? Weil es sich bei Synästhesie nicht um eine Krankheit handelt, sondern eher um eine Art Charakterzug. Die „Betroffenen“ wissen meist gar nicht, dass sie die Welt anders wahrnehmen als der Großteil der Bevölkerung – für sie ist das, was sie empfinden, normal. Sie stellen es nicht in Frage und würden vermutlich nicht auf die Idee kommen, eine Ärztin aufzusuchen, nur weil sie einen bestimmten Geschmack im Mund haben, wenn sie ein Wort lesen oder sehen. Der Psychiater, Hirnforscher, Philosoph und Mitbegründer der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft Prof. em. Dr. Dr. Hinderk Emrich bezeichnet das neurobiologische Phänomen deshalb auch als physiologische Normvariante.
Böse Zungen könnten jetzt sagen, Synästhetiker*innen würden sich das alles nur einbilden, aber dem ist nicht so. Tatsächlich gibt es sogar MRT-Untersuchungen, die eine Aktivität in den verknüpften Gehirnarealen zeigen. Außerdem wissen wir heute, dass die Gehirnstruktur der Betroffenen verändert ist und beispielsweise in bestimmten Arealen eine dichtere graue Substanz vorhanden ist.
Synästhesieformen & berühmte Vertreter*innen
Laut Anthropologe, Linguist und Synästhetiker Sean A. Day sind uns 80 verschiedene Formen von Synästhesie bekannt. Zu den häufigsten zählen Graphem-Farb-Synästhesie (Buchstaben und/oder Zahlen sind mit einer Farbe verbunden), Zeit-Raum-Synästhesie (Wochentage, Monate oder Jahre sind räumlich angeordnet), Person-Farb-Synästhesie (Menschen wird eine Farbe oder Ziffer zugeordnet) und farbiges Hören. Auf Letzteres gehe ich noch Mal etwas genauer ein.
Falls du zu den 96 Prozent der Gesellschaft gehörst, die nicht synästhetisch veranlagt sind, fällt es dir wahrscheinlich schwer zu verstehen, wie die Wahrnehmung der Betroffenen konkret aussieht. Und da kommt Pasquale D’Silva ins Spiel. Er ist selbst Synästhetiker und hat ein Video gemacht, das seine Empfindungen bildlich darstellt. Genauer gesagt zeigt es, wie für ihn Töne aussehen. Blecherne Töne sind beispielsweise gelbe Spitzen, der Bass ist ein lilafarbener, pulsierender Punkt. Die Fähigkeit, Musik zu sehen hat Pasquale übrigens dazu inspiriert, die App Keezy zu kreieren – ein simples Soundboard, das nach Farben sortiert ist.
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D'Silva ist nicht der einzige Künstler, der seine Begabung für seine Karriere nutzt. Wassily Kandinsky nutzte sie beispielsweise, um besonders „musikalische“ Bilder zu malen. Weitere berühmte Synästhetiker*innen sind die Musiker*innen Lady Gaga, Lorde, Pharell Williams, Kanye West und Chris Martin sowie der Comiczeichner Michel Gagné, dessen Ratatouille-Szene eine Synästhesieform zeigt, bei der Geschmack für eine visuelle Mitempfindung sorgt. Auch der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman, der Komponist Franz Liszt und der Autor Vladimir Nabokov sollen Synästhetiker gewesen sein. Diese prominenten Beispiele zeigen ganz gut, dass das neurobiologische Phänomen mit positiven Aspekten wie Hochbegabung, Hochsensibilität und Kreativität zusammenhängen könnte. Allerdings gibt es auch eine Schattenseite: Aufmerksamkeitsstörungen, räumliche Orientierungsschwierigkeiten und Reizüberflutungen gehen oftmals auch mit Synästhesie einher.
Um auf einer heiteren Note zu enden, möchte ich an dieser Stelle das Video von D’Silva zeigen, um zu verdeutlichen, wie schön das Spiel zwischen Musik und Farben aussehen kann.