Sheila* und ihr Mitbewohner Aaron*, beide 24, hatten sich immer super verstanden. Nachdem sie Anfang 2020 gerade ihre jeweiligen Beziehungen beendet hatten, beschlossen sie, zusammenzuziehen. Während der ersten Coronawelle wurden sie beide von der Arbeit freigestellt und hatten plötzlich jede Menge Freizeit. Davon verbrachten sie mehr und mehr gemeinsam, und allmählich wurden ihre Gespräche dabei immer ernster. Quatschten sie anfangs noch über Videospiele, landeten plötzlich tiefschürfende Themen auf dem Tisch: Aaron erzählte Sheila von der schwierigen Beziehung zu seiner Familie und den Problemen mit seiner Freundin. Rund um die Uhr klopfte er an Sheilas Zimmertür – wann immer er eben das Bedürfnis hatte, sich bei ihr auszukotzen.
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2020 verbrachten die meisten von uns mehr Zeit zu Hause denn je. Für viele bedeutete das, dass sie plötzlich mit ihren eigenen Gedanken zum ersten Mal über lange Zeit weitestgehend alleine waren – und wie auch Sheila wurden dadurch viele Mitbewohner:innen plötzlich zum Stress-Ventil. Anstatt wie vor der Pandemie hier und da ein offenes Ohr und lieb gemeinte Ratschläge anzubieten, sind Mitbewohner:innen, Partner:innen, Eltern, Geschwister – eben alle, die unter demselben Dach wohnen – in aller Welt zu unfreiwilligen, unbezahlten, unausgebildeten „Therapeut:innen“.
So geht es auch Leanne*, 24. Sie ist der Meinung, dass sie in dem ganzen Jahr, seitdem sie mit Elle* zusammenwohnt, von ihrer Mitbewohnerin nicht ein einziges Mal gefragt wurde, wie ihr Tag war. Ihre Gespräche verlaufen immer nach demselben Muster: Sobald Elle nach Hause kommt, fängt sie an, sich über ihre Probleme bei der Arbeit auszulassen. Wenn Leanne dann irgendwann versucht, das Gespräch auf etwas zu lenken, das ihr passiert ist, steuert Elle es ganz schnell wieder zurück zu ihrem eigenen Elend. „Für sie bin ich einfach nur ein emotionaler Boxsack. An mir kann sie ihren Frust, ihre Probleme und Unsicherheiten auslassen“, seufzt Leanne.
Und während wir mittlerweile in einem „richtigen“ Lockdown stecken, ist ein offenes Ohr wohl wichtiger denn je. Durch die Pandemie hat unsere geistige Gesundheit einen ordentlichen Knacks bekommen; dazu trägt nicht nur die dauernde Isolation bei, sondern vielleicht auch die Angst um den eigenen Job und daraus resultierende Geldsorgen, mal ganz abgesehen von der Angst vor dem Virus selbst.
Nur betreffen diese Sorgen eben auch die „Therapeut:innen“, nicht bloß ihre im selben Haus wohnenden „Patient:innen“. Sheila zum Beispiel wurde gerade aus ihrem Job entlassen; sie überlegt jetzt, ob sie sich vielleicht umschulen sollte, um eine neue Arbeit finden zu können. Trotzdem gibt sie Aaron jede Menge emotionalen Raum – der allerdings, sagt sie, Tag für Tag beachtlich an ihrer eigenen mentalen Stärke kratzt. Jobbewerbungen, Onlinekurse? Dafür hat sie einfach nicht die nötige Energie. „Anfangs habe ich mich noch darüber gefreut, dass mir Aaron genug vertraut, um mir von seinen Problemen zu erzählen. Langsam wird es aber anstrengend“, sagt sie. „Ich muss jetzt sogar im Voraus planen, wann er an meine Tür klopfen darf, damit ich nicht völlig die Nerven verliere.“ Außerdem, erzählt sie, hat Aarons endlose Negativität dafür gesorgt, dass sie wegen ihrer schon vorher diagnostizierten Angststörung wieder in Therapie ist, obwohl sie damit eigentlich vor über einem Jahr aufgehört hatte.
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Als ich Gin Lalli, Therapeutin und Moderatorin beim Podcast Stress Bucket Solutions, von diesem „WG-Therapie“-Phänomen erzähle, ist sie wenig überrascht. Viele ihrer Klient:innen berichten, dass ihre Freund:innen und Mitbewohner:innen quasi ein Stück vom Therapie-Kuchen abhaben wollen, wenn sie von der Behandlung erfahren. „Sie stellen meinen Patient:innen dann alle möglichen Fragen“, sagt sie. Warum? Weil diese Leute so versuchen, Tipps zum Umfang mit Angststörungen und Depressionen zu bekommen – was gerade in dieser Zeit wohl nur verständlich ist. Gin betont aber: Eine Therapie ist etwas höchst Persönliches; was für eine Person funktioniert, muss für eine andere nicht automatisch genauso gut klappen.
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Du kannst keine objektiven Ratschläge verteilen, wenn du jemanden auf persönlicher Ebene kennst. Dabei ist genau das die therapeutische Aufgabe.
GIN LALLI
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Außerdem warnt sie davor, dass es für beide Parteien gefährlich sein kann, Hobby-Therapeut:in zu spielen. Mal ganz von der schädlichen Wirkung auf die Psyche des oder der „Therapeut:in“ selbst, kommt es dabei zu „einem Verschwimmen der Grenzen: „Du kannst keine objektiven Ratschläge verteilen, wenn du jemanden auf persönlicher Ebene kennst. Dabei ist genau das die therapeutische Aufgabe“, meint Gin. „Bei der Therapie geht es darum, die Patient:innen zur Selbsterkenntnis zu führen. Kennst du diese Person aber zu gut, gibst du einfach nur subjektive Ratschläge.“
Und gerade Menschen, die selbst in Therapie sind oder waren, werden dadurch gern von anderen zu „Therapeut:innen“ gemacht. „Ich glaube, dass ich selbst in Behandlung war, hat Elle denken lassen, dass ich ihr dadurch auch irgendwie helfen könnte“, spekuliert Leanne über ihre Mitbewohnerin. Diese Verzweiflung, irgendeine Form der therapeutischen Hilfe zu bekommen, lässt sich aber auch mit der deprimierenden Realität derzeitiger Wartezeiten auf eine Psychotherapie erklären: Hierzulande waren es 2018 noch im Schnitt fünf Monate, und durch Corona dürfte sich diese Zahl nochmal vergrößert haben, insbesondere in den Monaten der Winterdepression. Der Bedarf ist einfach weitaus höher als das Angebot, vor allem auf dem Land.
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Und wer sich selbst gar nicht erst eingestehen will, unter schlechter geistiger Gesundheit zu leiden, verlässt sich dann eben lieber auf die Hilfe der eigenen Mitbewohner:innen als emotionale Stütze.
Davon kann vor allem Jill* ein Lied singen. Ihr Mitbewohner Ryan* fing an, sich jeden Abend zu betrinken, um seine dauerhaft schlechte Stimmung zu heben. Nach und nach öffnete er sich dann Jill in zunehmend ernsten Gesprächen, in denen seine Wut teilweise hochkochte, wenn er zum Beispiel über seine harte Kindheit sprach. Ryans Unfähigkeit, seine eigenen Gefühle zu kontrollieren, fing an, Jill Angst zu machen – sie fürchtete sich um ihre Sicherheit in ihren eigenen vier Wänden, die sie sich mit ihm teilte. „Ich konnte mich irgendwann einfach nicht mehr in seiner Nähe entspannen. Gleichzeitig traute ich mich aber auch nicht, ihm das zu sagen, weil ich Angst hatte, dass ihn das nur noch wütender machen würde, weil er sich dann vielleicht noch einsamer fühlte“, erzählt sie.
Sie kratzte allen Mut zusammen und stellte Ryan schließlich vor ein Ultimatum: „Ich gestand ihm, dass ich so viel Schiss vor ihm hatte, dass ich ausziehen würde, wenn er das nicht in den Griff bekam“, sagt sie. Zwei Tage später schwor er dann, einen Monat lang keinen Alkohol zu trinken.
Jill hatte das Glück (und war darüber selbst ein wenig überrascht), dass ihre Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit erfolgreich dazu führten, dass sie in ihrem eigenen Zuhause wichtige Grenzen setzen konnte. Gleichzeitig hält sie es aber auch für unwahrscheinlich, dass Ryan sich mehr Mühe geben wird, sich selbst zu helfen – Jill jedenfalls zögert noch, ihm professionelle Hilfe ans Herz zu legen. „Sein Ego würde das gar nicht zulassen. Psychotherapie wäre für ihn ein Zeichen von Schwäche“, mutmaßt sie. Andere, wie Leanne, haben hingegen das Gefühl, es sei schon zu spät, um die geistige Gesundheit ihrer Mitbewohner:innen anzusprechen, und dass der Vorschlag einer Therapie die ohnehin schon zerbrechliche Beziehung endgültig ruinieren würde. „Sie würde es mir vermutlich schon übel nehmen, sowas überhaupt anzudeuten“, meint Leanne.
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Leider liegt das Ende des Lockdowns wohl noch in weiter Ferne – es ist also total verständlich, dass du dir die Beziehung zu deinen Mitbewohner:innen, mit denen du auf so kleinem Raum zusammenhockst, gerade jetzt nicht versauen willst. Aber das Setzen von Grenzen muss dabei gar keine direkte Konfrontation mit sich ziehen: Gin betont, dass Durchsetzungsvermögen nichts mit Aggression zu tun hat, sondern dass es dabei darum geht, deine eigenen Bedürfnisse authentisch und ehrlich auszudrücken. Direkt zu kommunizieren, dass du dich von den Emotionen deines Gegenübers überwältigt oder dich nicht kompetent genug fühlst, um ihm oder ihr damit zu helfen, ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Und wenn du dir noch nicht zutraust, eine Therapie vorzuschlagen, „sprich doch einfach mal generell geistige Gesundheit als Thema an, ohne zu spezifisch zu werden“. Auch die Empfehlung von Podcasts, Artikeln und Büchern, die sich damit befassen, können das Gespräch weiter öffnen.
Bei alldem solltest du außerdem nicht vergessen, dass die Leute, die sich auf diese Art deine Hilfe suchen, „oft gar nicht wissen, wie schwer dir das fällt. Vielleicht haben sie den Eindruck, mit all ihren Problemen immer gerne zu dir kommen zu können“, erklärt Gin. „Bis du deine Schwierigkeiten damit ansprichst, wissen sie es einfach nicht besser.“ Und genauso wichtig: „Geh nicht automatisch davon aus, dass dein:e Mitbewohner:in böse auf dein Geständnis reagiert – 99 Prozent unserer Ängste werden nie Realität!“
Außerdem, betont Gin, kann die Beziehung auch danach noch positiv, ausgeglichen und freundlich bleiben. „Mach einfach ‚ganz normal‘ weiter, sobald du deine Gefühle ausgesprochen hast. Sei weiter ein:e gute:r Freund:in“, rät sie – und obwohl du danach vielleicht erstmal ein bisschen Abstand brauchst, solltest du den lieber vermeiden. „Zieh dich jetzt nicht vor der Person zurück.“
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Während wir also darauf warten, dass die Normalität wieder in unsere Leben zurückkehrt, wir wieder unbekümmert das Haus verlassen und uns fernab unserer Bildschirme mit Leuten treffen können, gilt mehr denn je: Die geistige Gesundheit in einem geteilten Haushalt ist keine Einbahnstraße. Es ist unheimlich wichtig, die eigene zur Priorität zu machen. Schließlich, erinnert uns Gin, gibt es „einen Grund dafür, warum dir im Flugzeug gesagt wird, du sollst zuerst dir selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen!“
*Namen wurden auf Wunsch der Interviewten geändert.
Solltest du akut Hilfe brauchen, wende dich an die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 oder den Chat der TelefonSeelsorge. Ansonsten kannst du deine Hausärztin oder deinen Hausarzt nach einer Liste mit Therapeut:innen in deiner Umgebung fragen.
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