Als mein Vater nach einer plötzlichen Krankheit im Juni 2015 verstarb, dachte ich: „Okay, das ist das Schlimmste, das mir je passiert ist.” Und das war es auch, bis zu dem Moment im November letzten Jahres, als mich mein Bruder anrief, um mir zu sagen, dass die Ärzte meinen Neffen – den kleinen Sohn unserer jüngeren Schwester – nicht retten konnten. Denn das, was wir für eine Lungenentzündung gehalten hatten, entpuppte sich am Ende als eine lebensbedrohliche Herzmuskelentzündung.
Einige Stunden nach diesem Anruf flog ich nach Hause. Abgesehen davon, dass ich während des gesamten Gedenkgottesdienstes Rotz und Wasser heulte, habe ich meine eigene Trauer sehr oft beiseite gelegt und mich stattdessen darauf konzentriert, meiner Schwester und ihrer Familie nützlich zu sein. Ich packte Brotboxen und spielte das Elterntaxi. Ich räumte auf. Ich besorgte Geschenke für alle, hörte zu und versuchte Trost zu spenden.
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Etwa einen Monat später fuhr ich zurück nach Hause, fing mein normales Leben wieder an. Mein Magen zitterte vor Schuldgefühlen – warum lasse ich meine Familie allein? –, aber auch vor Angst. Ich würde wieder anfangen müssen Leute zu treffen, müsste über alles reden. Ich wäre jetzt die Person, die getröstet werden würde. Ich wusste, dass ich diese Unterstützung brauche, aber ich fühlte mich zu ungeschützt, zu entblößt. Ich trauerte, und das schämte mich dafür.
Als mein Vater verstarb, hatte ich unglaublich viel Energie darauf verwendet, mein Leben trotzdem einigermaßen auf die Reihe zu kriegen – zumindest nach außen hin. Ich habe mich darauf gestürzt, die privaten Probleme anderer Freund*innen zu lösen. Dann bin ich nach Hause gegangen und habe in meinem Zimmer geweint, in der Hoffnung, dass meine Mitbewohnerin es nicht mitbekommen würde. Ich grübelte und wollte mit jemandem reden, ohne tatsächlich jemanden gefragt zu haben, ob er mit mir reden würde. Ich versuchte die Stimmungskanone schlechthin zu sein, aber war mir stets im Klaren darüber, dass nur ein einziger Drink zu viel bedeuten und ich anfangen könnte, drauf los zu plaudern und zu schluchzen.
Seither bin ich mit ein paar Leuten enger zusammengewachsen, die auch einen Elternteil verloren haben; wir tauschten uns aus und scherzten darüber, dass wir einen Trauer-Club gründen sollten. Aber die meisten Menschen werden schließlich mit dem Tod eines Elternteils konfrontiert und müssen irgendwie damit zurechtkommen. Der Tod eines Kindes, einer geliebten Nichte oder eines Neffen ist zu furchtbar, zu entsetzlich.
Als ich meine Freundinnen zum ersten Mal nach dem Tod meines Neffen wiedersah, konnte ich einfach nicht darüber sprechen. Wir saßen in einer Sitzecke im Restaurant und ich weinte. Meine Tränen rissen Löcher in die Papiertaschentücher und entschuldigte mich unentwegt für das Weinen. Sie beruhigten mich und sagten mir immer wieder, dass das in Ordnung sei, aber ich fühlte mich entblößt, irgendwie gedemütigt und gleichzeitig spürte ich, wie dieses emotionale Pflaster plötzlich weggerissen wurde und etwas freigesetzt hatte. Wird das jemals einfacher? fragte ich mich.
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Und manchmal wurde es das auch. Ein anderes Mal erinnerte ich mich an die Worte eines guten Freundes, die er mir nach dem Tod meines Vaters mit auf den Weg gegeben hatte: „Trauer ist nicht linear. An einem Tag ist sie ein riesiger Brocken, am nächsten nur ein kleiner Stein in deiner Hosentasche.“ Ich beglückwünschte mich selbst dazu, als ich es durch meinen ersten Arbeitstag geschafft hatte, ohne in Tränen ausbrechen zu müssen. Tage später ging ich auf eine Party und fand mich erneut aufgelöst schluchzend in der Küche wieder, als eine Bekannte vorbeikam, um mir ihr Beileid auszudrücken (was ich – nur fürs Protokoll – sehr zu schätzen wusste).
Die Wichtigkeit der Selbstfürsorge wurde mir und meiner Familie im vergangenen Jahr bewusst –ich wollte mich von Social Media fernhalten, ein schönes heißes Bad nehmen, einen langen Spaziergang machen. Für mich als trauernde Person hieß Selbstfürsorge, überwältigende soziale Situationen zu vermeiden, die unbequeme Gefühle auslösen könnten. Als meine besten Freund*innen aus der Ferne Skype-Anrufe vorschlugen, lehnte ich ab und argumentierte, dass das nur damit enden würde, dass ich vor meinem Laptop anfangen würde zu weinen. Warum sollte ich sie damit belästigen, wenn ich einem professionellen Therapeuten eh schon unglaublich viel Geld zahlte?
Rückblickend scheint diese Strategie weniger auf Selbstfürsorge zu setzen, sondern vielmehr darauf, die anderen vor jeglichen Unannehmlichkeiten zu verschonen. In Liebesbeziehungen hatte ich mich daran gewöhnt, meine Bedürfnisse zu unterdrücken und einen Hauch einer „Cool Girl“-Lässigkeit vorzutäuschen, anstatt meinen Partner zu vergraulen. Es hat nie geklappt, und doch habe ich, was meine Trauer anbelangt, immer denselben fehlgeleiteten Ansatz verfolgt.
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Das wurde sowas von deutlich, als ich kürzlich auf einer Geburtstagsparty jemandem über den Weg lief, den ich einst als engen Freund betrachtet hatte. Er hatte sich in der schwierigsten Phase aus meinem Leben geschlichen, hat nie nach mir gefragt, geschweige denn gesehen, und manchmal, wenn wir im selben Raum waren, ignorierte er mich einfach. Als diese tragische (sprich: langweilige) Figur habe ich mich isoliert gefühlt. Sie führte dazu, dass ich mich nur noch mehr anstrengte, mich als lebenslustiges Partygirl mit null Problemen ausgeben zu wollen.
Und da waren wir nun, hingen zusammen ab wie in alten Zeiten, als wäre nichts gewesen. Es war ganz nett, aber irgendwann brach es aus mir heraus. Es überraschte mich nicht, dass er sofort in die Defensive ging. Er hatte meinen Neffen nicht mit einem Wort erwähnt, denn wenn ihm selbst so etwas passiert wäre, würde er nie im Leben darüber reden wollen. Ich sollte das nicht so in den Vordergrund stellen, sollte positiver sein, oh, und wo wir gerade beim Thema wären, ich sollte wirklich aufhören, von meinem „toten Vater” zu sprechen.
An diesem Abend stürzte ich um 5 Uhr morgens schluchzend im Regen nach Hause. Den nächsten Tag habe ich im Bett verbracht, war unglaublich traurig und ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen. Hatte ich meine coolen Freunde verjagt, indem ich die nicht so coolen Aspekte meines Lebens angesprochen hattte? Hatte ich mehr getrauert, als es sozial akzeptiert war?
Dadurch, dass ich Sheryl Sandbergs Option B gelesen habe – das Buch, in dem sie über die Bewältigung von Trauer und ihre Resilienz nach dem vorzeitigen Tod ihres Mannes schreibt –, weiß ich, dass einige Freundschaften auf der Strecke bleiben, wenn eine Person jemanden verloren hat.
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„Wenn Menschen einen Tod miterlebt haben, sind andere, mit denen sie interagieren, die jedoch selbst noch keinen solchen Verlust erfahren haben, nicht immer bereit sich damit zu beschäftigen”, erklärte mir Dr. Sheri Jacobson, klinische Direktorin bei Harley Therapy. „Der Tod führt uns unsere eigene Sterblichkeit vor Augen, und auch wir müssen unweigerlich eines Tages einen solchen Verlust akzeptieren. Natürlich kann dies alles unterbewusst ablaufen, und sie könnten sich einreden, dass sie zu beschäftigt sind, um einem Freund oder einer Freundin in Not zu helfen und ihm oder ihr aus dem Weg gehen, ohne zu wissen, dass das, was sie zu vermeiden versuchen, in Wirklichkeit ihre eigenen Ängste, Sorgen und Unsicherheiten sind.”
„Für die Person, die einen Verlust erlitten hat und den verzweifelten Wunsch hat, unterstützt und geliebt zu sein, fühlt sich dies natürlich oft grausam an. Der Verlust eines geliebten Menschen kann in der Tat das Gefühl auslösen, verlassen worden zu sein. Freund*innen, die nicht in vollem Umfang verfügbar sind, können solche Gefühle dann verstärken oder sogar zu einem unbewussten Ventil werden, um solche Gefühle der Verlassenheit auszudrücken“, so Dr. Jacobson.
Wenn das der Fall ist, ist es das Beste, die Angelegenheit in einem unvoreingenommenen Ton anzusprechen. Ein*e professionelle*r Trauerberater*in oder eine Selbsthilfegruppe können auch den Zuspruch und das Verständnis bieten, das unsere Freund*innen vielleicht nicht bieten können. Die Quintessenz, so Jacobson, ist, dass es wichtig ist, diese Emotionen nicht anzustauen; genauso wichtig ist es jedoch, sie den richtigen Leuten anzuvertrauen.
Ich glaube, ich bin mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem ich weiß, wer diese Leute sind. Der Freund in Dubai, der mir einen Kuchen hat nach Hause liefern lassen, als ich einen schlechten Tag hatte. Die Freund*innen, die mir Taschentücher reichten und mich an dem Tag, der der dritte Geburtstag meines Neffen gewesen wäre, zum Mittagessen einluden. All die anderen, die mich schnell umarmten und immer wieder mit sensiblen, sehr netten Gesten um die Ecke kamen. Bei diesen Menschen fühle ich mich nie unter Druck gesetzt, super cool sein und über allem stehen zu müssen – etwas, woran ich mich immer wieder selbst erinnern muss, wenn sich meine Gefühle mal wieder anstauen.