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Wie meine Zwangsstörung mein Sexleben beeinträchtigt

Ich wusste, dass ich ungefähr fünf Minuten hatte, bevor er sich fragte, was ich so lange im Bad mache. Also habe ich im Eiltempo zum dritten Mal an diesem Abend meine Zähne geputzt und auch wenn ich eigentlich erst aus der Dusche kam, mich mit einem Waschlappen sauber gemacht. Kaum war ich aus der Badezimmertür, hatte ich das Gefühl, ich hätte eine Stelle vergessen zu reinigen und deshalb wird er mich eklig finden.
Das, was ich hier erzähle, scheint für viele etwas absurd oder übertrieben, aber um mit meinem Freund Sex haben zu können, war dieses Ritual für mich sehr wichtig, denn nur so konnte ich meine Zwänge stillen.
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Dass ich eine Zwangsstörung habe, wurde bei mir im Teenageralter festgestellt. Die Diagnose kam für mich überraschend, weil ich kurz vorher erfuhr, dass ich Tourette habe. Nachdem ich dem Arzt bei einer Untersuchung beiläufig erzählt hatte, dass ich ständig das Gefühl habe, ich müsse absolut keimfrei sein, machte er noch weitere Tests mit mir – und siehe da, diese obsessive Reinlichkeit, war kein weiteres Symptom von Tourette, sondern eine Zwangsneurose.
Nicht jeder Mensch mit einer Zwangsstörung hat einen extremen Reinlichkeitsdrang, aber bei mir war das eben der Fall. Schon in der Schule duschte ich viel öfter als alle meine Freund*innen. Ich hatte immer eine Zahnbürste dabei und Situationen, in denen ich mich „unrein“ machen könnte, vermied ich so gut es ging. Das war auch nicht so schwierig, wie man glauben mag: Vom Schwimmunterricht konnte ich mich durch vorgetäuschte Periodenschmerzen entschuldigen und Sport hat eigentlich niemand wirklich mitgemacht.
Im Alltag wurde meine Störung erst durch meinen ersten Freund ein Problem, denn jetzt musste ich mich nicht nur um meine Hygiene kümmern, sondern auch um seine. Da wurde mir das erste Mal klar, wie sehr sich meine Zwänge auf mein Leben und meine Beziehungen auswirkten.
Bis ich anfing Sex zu haben, waren meine Zwänge aber im Grunde kein großes Hindernis in meinem Leben. Als ich aber meine erste „richtige“ Beziehung hatte und wir regelmäßig Sex hatten, spürte ich oft, wie meine Zwänge Überhand nahmen.

Nicht jeder Mensch mit einer Zwangsstörung hat einen extremen Reinlichkeitsdrang, aber bei mir war das eben der Fall.

Wie fast jedes frisch verliebte Paar, wollte ich auch, dass unsere Beziehung gerade am Anfang so easy wie möglich ist. Ich tat alles in meiner Macht Stehende, um ihm zu zeigen, dass ich für jeden Spaß zu haben bin. Wann und wo er auch Sex haben wollte, ich machte mit. In dieser Zeit hatte ich aber auch noch nicht gemerkt, dass meine Abneigung zu Sex mit meinem Hygienewahn zusammenhing.
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Obwohl mich all die Gefühle fertig machten, versuchte ich mir nie etwas anzumerken. Wenn wir miteinander schliefen, kniff ich oft einfach die Augen zu und drehte mein Gesicht weg von ihm. Irgendwann wurde der Alkohol mein Schutzschild. Durch ihn versuchte ich mir selbst einzureden, dass sein Speichel in meinem Mund mich nicht anwiderte. Seine Berührungen mich nicht glauben ließen, ich wäre in einem anderen Körper. Doch diese Fassade konnte ich nicht lange aufrechterhalten.
Im Laufe der Zeit drängte ich ihm meine Rituale quasi auf. Bevor wir intim miteinander werden konnten, musste ich von ihm immer wissen, wann genau er das letzte Mal geduscht hatte. Und wenn er versuchte mich anzufassen, ohne mir zu garantieren, dass er sauber war, stieß ich ihn von mir weg. Mein Verhalten ihm gegenüber machte mir große Sorgen. Was, wenn er dachte, ich würde ihn nicht mögen? Immerhin hat in der Uni ein Typ mal zu mir gesagt, ich wäre gefühllos, weil ich nach dem Sex gleich duschen ging und nicht kuscheln wollte. Damit mir so etwas nicht wieder passierte, erzählte ich meinem Freund von meiner Zwangsstörung.
Also setzte ich mich mit ihm hin und erklärte, dass obwohl ich ihn abgöttisch liebte, bei jeder Berührung von ihm nur an all die Keime denken konnte, die er mit sich trug. Ich versuchte ihm deutlich zu machen, dass ich mir all die Orte und Dinge vorstellte, die er angefasst hatte und spürte, wie sich der Dreck in meinen Poren festsetzte. Für mich bedeutete frisch aus der Dusche zu steigen, im Grunde dreckig zu sein. Ich erklärte ihm, dass das gemeinsame Zähneputzen (manchmal fünfmal am Tag) hieß, wir sind beide „gleich rein“. Nichts davon war logisch, aber nur so konnte ich nun mal meine Zwänge befriedigen.
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Für einige Frauen mit Zwängen ist dieses Szenario altbekannt. „Sex in der Dusche ist für mich ein No-Go, weil ich befürchte, dass meine nassen Haare meine Störung enthüllen“, sagt die 26-jährige Lianne*. Sie leidet unter der sogenannten Trichotillomanie, einer Störung der Impulskontrolle, wodurch sie den Drang empfindet ihre eigenen Haare auszureißen.
Lianne ist seit einem Jahr mit ihrem Freund zusammen und hat ihm bis heute nicht von ihrem Zwang erzählt. Stattdessen versucht sie Situationen zu vermeiden, in denen die kahlen Stellen auf ihrem Kopf sichtbar werden könnten. Sexpositionen, in denen ihr Freund hinter ihr steht, sind zum Beispiel nicht möglich. Außerdem erlaubt sie ihm nicht Haare anzufassen. Damit er das nicht hinterfragt, sagte sie im, dass sie es einfach nicht mag.
Doch Liannes Zwänge zeigen sich nicht nur körperlich. Auch ihre Gedanken sind davon betroffen. Zum Beispiel ist sie davon überzeugt, dass jeder sexuelle Kontakt eine Geschlechtskrankheit zur Folge hat. Darunter hat vor allem ihre vorherige Beziehung gelitten. Letztendlich hatte ihr Ex nämlich das Gefühl, sie würde ihm nicht vertrauen. Aber selbst heute noch hat sie an solchen Gedanken zu beißen. Wenn sie mit ihrem Freund Sex hat, hat sie oft Angst, dass das Kondom nicht richtig sitzt und sie sich mit einer unentdeckten Geschlechtskrankheit ihres Partners ansteckt.
Auch die 22-jährige Ellen* hat Probleme damit, potenziellen Partner*innen zu vertrauen. Selbst ihr Freund ist dabei keine Ausnahme. „Ich glaube ja nicht einmal meinen eigenen Testergebnissen, also vertraue ich auch nicht seinen“, erklärt sie. „Auch wenn ich eigentlich weiß, dass er keine Geschlechtskrankheit hat.“

Mein Verhalten ihm gegenüber machte mir große Sorgen. Was, wenn er dachte, ich würde ihn nicht mögen?

Sogar typische Beschwerden, wie eine leichte Erkältung können ihre obsessiven Gedanken triggern: „Einmal waren mein Ex und ich gleichzeitig krank. Da hab ich mich gleich verrückt gemacht und bekam Panik, dass wir HIV haben“, erklärt sie. Ganz schlimm sind Ellens Zwänge in Stresssituationen. Manchmal kriegt sie dann sogar Übelkeit.
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Ich selbst habe diese Erfahrung auch schon gemacht. Meine obsessive Reinlichkeit wird durch Stress oder Erschöpfung verstärkt. Nach eine anstrengenden Meeting auf der Arbeit, gehe ich heim und verkrieche mich eine Stunde lang unter die Dusche. Manchmal kratze ich mein Gesicht auf, bis ich blute, in der Hoffnung dass ich den „Dreck“ aus meinen Poren bekommen habe.
Natürlich beschränken sich die schlechten Gedanken, die einen großen Teil der Zwangsstörung ausmachen, nicht nur auf sexuelle Gesundheitsprobleme. Die 27-jährige Lisa * hatte noch nie einen One-Night-Stand – Schuld daran ist ihre Zwangsstörung. Durch sie fixiert sie sich auf winzige Details in ihrer Umgebung, wie einen Fleck an der Decke oder einen leicht schief hängenden Rahmen. Wenn ihr so etwas beim Sex mit ihrem Freund auffällt, muss sie kurz abbrechen, den „Fehler“ korrigieren und kann dann erst weitermachen. „Das ist ganz und gar nicht sexy und ehrlich gesagt macht es mich und meinen Freund richtig fertig.“
Dr. Alison Foster ist eine klinische Psychologin und spezialisiert sich vor allem auf Zwangsstörungen. Sie sagt, dass Scham ein großes Problem für Menschen mit einer Zwangsstörung ist. „Oft sind den Menschen ihre Zwänge sehr peinlich. Scham ist eine unglaublich stark Emotion, die Menschen davon abhalten kann, sich anderen gegenüber zu öffnen und ihnen mitzuteilen, wie es ihnen wirklich geht“, erklärt sie.
Sprich: Viele ertragen ihre Zwänge in einsamer Stille. Irgendwann habe ich mit meinem Freund über meine Krankheit gesprochen und anfangs achtete er meinetwegen auch mehr auf seine Hygiene, aber nach zwei Jahren ging die Beziehung dennoch zu Brüche. Ich fühlte mich trotz all der Bemühungen einfach nicht mehr wohl an seiner Seite. Auch mit meinem nächsten Freund ging es nicht gut aus, obwohl er anfangs wirkte, als wäre er fast so reinlich wie ich. Er wechselte sogar alle drei Tage seine Bettlaken und duschte zweimal am Tag! Nach unserem ersten Date tweetete ich sogar, dass ich meinen Traummann gefunden hätte. Aber selbst diese Beziehung hielt nicht für die Ewigkeit. Am Anfang versuchte auch er sein Bestes, aber als sich die Beziehung aus anderen Gründen verschlechterte, benutzte er meine Zwangsstörung auf immer heimtückischere Weise gegen mich. Wenn wir uns stritten, weigerte er sich vor dem Schlafengehen zu duschen, da er wusste, dass es mich die ganze Nacht wach halten würde. Auf meine Bitte hin putzte er sich widerwillig die Zähne und erinnerte mich immer wieder daran, dass ich „verrückt“ sei.
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Nachdem wir uns getrennt hatten, versuchte ich mein Glück mit Dating-Apps. Es versteht sich von selbst, dass One-Night-Stands und Tinder Hand in Hand gehen. Grundsätzlich habe ich auch nichts dagegen mit Fremden ins Bett zu gehen. Ich hasse es nur die Tatsache, dass ich vorher nicht weiß, wie gut ihre Hygiene ist.
Zweimal habe ich mich auf das Abenteuer eingelassen. Beide Typen fand ich attraktiv und beide wollten mich wieder sehen. Leider waren sie mir einfach nicht reinlich genug. Der erste wollte sich davor nicht duschen und der andere putzte sich nicht die Zähne, bevor wir ins Bett gingen mit der Begründung: Er findet es unnötig jeden Abend Zähne zu putzen. Immer, wenn er versuchte mich zu küssen, versteifte sich mein ganzer Körper. Letztendlich habe ich meine Periode als Vorwand genommen, nicht mit ihm zu schlafen. Stattdessen drehte ich mich um und tat so als würde ich schlafen. In beiden Fällen habe ich mich nicht getraut meine Zwangsstörung anzusprechen und somit mir auch die Chance verwehrt verstanden zu werden.
Bestimmte sexuelle Vorlieben können bereits Scham in dir hervorrufen, aber wenn du dazu an einer Zwangsstörung leidest, wird dieses Gefühl nur verstärkt. Trotzdem ist es wichtig, dass du darüber sprichst, denn nur so kannst du von deinem Gegenüber verstanden werden und im Schutz einer ehrlichen und aufrichtigen Beziehung versuchen an deinen Zwängen zu arbeiten.
Falls du unter Zwangsstörungen leidest, suche bitte ärztliche Hilfe auf.
*Die Namen wurden geändert.

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