Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so richtig ausgerastet bin. So mit Schreien und Türen knallen und Dinge-in-Ecken-feuern. Die einzige Situation, an die ich mich gut erinnere, fand in meiner Pubertät statt (ich durfte nicht für Rock am Ring Schule schwänzen – Frechheit). „Good for you!“, denkt ihr jetzt vermutlich. Aber dass ich nicht ausraste, liegt nicht daran, dass ich nicht wütend bin.
Um ehrlich zu sein bin ich sogar ständig wütend. Wie sollte ich es auch nicht sein? Jeden Morgen klatscht mir mein Smartphone zum Aufstehen drei neue schlechte Nachrichten ins Gesicht und schiebt im Laufe des Tages noch ein paar Ungerechtigkeiten hinterher. Man kann Schlagzeilen vom Postillion nicht mehr von denen der Tagesschau unterscheiden und allgemein ist die Welt einfach verrückt geworden. Ich bin irgendwie machtlos. Klar bin ich wütend!
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Wieso raste ich nie aus?
Lange hab ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wieso ich trotzdem nie schreie, Türen knalle, Dinge in Ecken feuere – wieso ich auf Demos nur zaghaft Parolen brülle, obwohl ich innerlich koche und wieso ich sogar im Angesicht des respektlosesten AfD-Anhängers in Facebook-Kommentarspalten immer krampfhaft sachlich bleibe. Im Traum ist es mir nicht eingefallen, diese Massen an blanker Wut auch nur für einen Moment mit der Welt zu teilen. Auch, wenn es angebracht wäre. Auch, wenn es heilsam wäre! Wieso eigentlich nicht? Dann ging mir ein Licht auf: Mein Geschlecht ist schuld!
Welche öffentlichen Reaktionen löst eine vor Wut schnaubende Andrea Nahles am Rednerpult aus? Und wieso geht gleichzeitig ein brüllender Cem Özdemir unter Beifall viral? Wie reagierte die Öffentlichkeit, als Serena Williams ihren Tennisschläger durch die Gegend feuerte? Klar, unkontrollierte Wut lässt niemanden besonders kompetent wirken. Trotzdem finden sich an den Spitzen aller möglichen Machtinstanzen Männer, die ihre Emotionsausbrüche nicht zu kontrollieren wissen – der Neuzugang der Stunde ist der winselnde, schreiende, heulende Brett Kavanaugh im amerikanischen Supreme Court.
The clearest example of how white supremacist patriarchy works this year thus far:
— Brittany Packnett (@MsPackyetti) 5. Oktober 2018
Society holding Serena Williams to a higher emotional standard in a tennis game than they do accused abuser Brett #Kavanaugh in a lifetime job interview to determine the fate of the country. pic.twitter.com/yeNZwTCBBg
Ein wütender Mann ist überzeugt. Eine wütende Frau ist hysterisch.
Wut ist ein männliches Privileg. Denn Wut ändert ihre Beschaffenheit – je nachdem, ob sie aus einem Mann oder einer Frau stammt. Ein wütender Mann gilt als überzeugt und entsetzt. Eine wütende Frau gilt als hysterisch und unkontrolliert. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wütendes Auftreten den Einfluss von Frauen mindert, während es den von Männern stärkt. Es ist daher kein Wunder, dass sich in den Machtpositionen dieser Welt ausschließlich Frauen befanden und befinden, die über eine stärkere Selbstkontrolle verfügen als Bruce Lee. Denn will man als Frau ernst genommen werden, dann hat man stets die Fassung zu bewahren. Angela Merkel ist das beste Beispiel: Mithilfe der Energie aus all der aufgestauten Wut dieser Frau könnte man vermutlich sofort alle Atom- und Braunkohlekraftwerke für immer schließen. Hillary Clintons Pokerface war monatelang wie in Stein gemeißelt, ganz egal, wie oft Trumps wütende Spuckefäden sie bei TV-Duells im Gesicht trafen. Es ist auch kein Wunder, dass ich mir antrainiert habe, meine Wut für mich zu behalten. Denn wer macht sich schon gerne seine Chancen ernst genommen zu werden zunichte und wird stattdessen zur hysterischen Alten?
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All das ist Teil eines Narratives, das so alt ist wie das Patriarchat selbst. Es besagt, dass Frauen so wenig Platz wie möglich einzunehmen haben. Das gilt nicht nur für’s Körperliche (du hast dünn zu sein), für’s Räumliche (du hast nicht breitbeinig dazusitzen), für’s Zwischenmenschliche (du hast nicht rumzuzicken), für’s Sexuelle (du hast keine eigenen Bedürfnisse zu äußern). Die Liste geht weiter. Und eben auch für’s Verbale: Du hast nicht wütend zu sein. Eine wütende Frau nimmt sich zu viel raus. Eine wütende Frau fordert zu viel Raum ein. Eine wütende Frau bricht mit der Vorstellung, dass wir die ruhigen, kontrollierten, schwachen und zerbrechlichen Wesen sind, als die wir bisher gern gesehen wurden. Das ist der Grund, wieso weibliche Wut gerne auf Menstruationsprobleme oder „Hysterie“ geschoben wird: Es sind die einzigen Szenarien, in denen das Bild des „schwachen Geschlechts“ mit so etwas Grobem wie einem Wutausbruch in Einklang zu bringen ist.
Mut zur Wut
Wenn man als Frau Einfluss gewinnen will, muss man sich also der Funktionsweise der patriarchalen Gesellschaft unterordnen – und möglichst still und verträglich sein. Ich weiß nicht, wie es euch geht – aber mir reicht das nicht. Ich habe keine Lust mehr, das System auszutricksen. Ich will das System zerschmettern! So wie Serena Williams ihren Tennisschläger. Denn so gefährlich Wut sein kann: Sie ist eine Emotion, die klare Forderungen stellt und die Radikalität in Momente bringen kann, in denen Radikalität angebracht ist. Ich habe mir also vorgenommen, öfter wütend zu sein – denn oft genug ist Wut berechtigt. Ich will Meinungsverschiedenheiten nicht mehr länger aus Gründen der Harmoniewahrung freundlich wegkichern. Ich will breitbeinig in der U-Bahn sitzen, auf Demos laut brüllen und vielleicht bei Gelegenheit auch mal eine Tür knallen. Ich will wütenden Männern Raum streitig machen! Ich will meine Fresse aufmachen! Das bedarf ein mühsames Verlernen von Selbstminimierung. Aber ich arbeite dran: One Wutausbruch at a time. Auf dass wir vielleicht irgendwann eine Kanzlerin oder US-Präsidentin haben können, die manchmal zurecht ausrastet. Ich lade euch ein, mitzumachen.
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