Cassy und Anya sind Schwestern und beide Anfang zwanzig. Anya ist die jüngere. Zwei Jahre trennen die beiden. Mit 11 Jahren wurde Cassy magersüchtig. Mit 13 wurde sie in eine Klinik eingewiesen, in der sie fünf Monate als stationäre Patienten verbrachte und acht weitere Jahre ambulant behandelt wurde. Cassy geht es heute wieder gut, auch wenn die Krankheit ihren Körper gezeichnet hat. Es ist nicht sicher, ob sie jemals Kinder bekommen kann.
Obwohl die Schwestern beste Freundinnen sind, haben sie nur nie wirklich über die Zeit gesprochen, in der Cassy krank war. Was nun folgt ist eine Unterhaltung über Magersucht und was diese für ihre Beziehung bedeutet hat.
Cassy: Als ich am schlimmsten Punkt der Krankheit war, wie ging es dir als Schwester da?
Anya: Als Kind habe ich dich so sehr bewundert - Ich habe dir zugesehen und mir einiges abgeguckt, wenn ich eine Orientierungshilfe brauchte. Als du krank wurdest, warst du nicht mehr die große Schwester, die du vorher warst. Am schwersten war für mich, dass ich alle Erfahrungen alleine machen musste. Ich konnte dir nicht die typischen Fragen stellen, die eine kleine Schwester zu Jungs und zur ersten Periode so hat. Ich musste da alleine durch. Und dann habe ich mich schuldig dafür gefühlt. Ich habe sogar meine erste Periode vor dir geheim gehalten.
Wenn ich wirklich ehrlich bin, habe ich dich nicht als Schwester gesehen, als es dir am schlechtesten ging. Ich habe gedacht, dass ich dich gar nicht mehr richtig kenne. Die Magersucht hat alles für sich eingenommen. Es war nicht mal möglich ein Gespräch mit dir zu führen. Nichts hat dich interessiert. Ich erinnere mich, dass ich dich in der Klinik besucht habe - ich muss so 11 Jahre alt gewesen sein - und ich war so aufgeregt, weil ich dir so viele Dinge erzählen wollte, aber du hast mich einfach ignoriert. Danach dachte ich: „Scheiß auf dich, das war das letzte Mal, dass ich dich besucht habe.“ Und so war es dann auch.
Aber was hast du von mir gedacht? Du hast nie darüber gesprochen und ich frage mich welche Erinnerungen du an diese Zeit hast.
Ich erinnere mich daran, dass ich gerne wie du gewesen wäre, weil du ein Leben hattest und in meinen Augen normal warst. Ich wollte in deiner Nähe sein, weil man mit dir Spaß hatte und du lustig warst, während für mich alles deprimierend und dunkel war. Ich habe aber kaum Erinnerungen an dich als Person. Das ist wirklich sehr traurig: Meine Gedanken waren so von der Magersucht eingenommen, dass ich mich für nichts und niemanden sonst interessierte. Ich glaube, ich habe dich damals nie etwas persönliches über dich und deine Leben gefragt. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt. Obwohl ich mich daran erinnere dich sehr geliebt zu haben und diese Liebe war das Wichtigste an unserer Beziehung. Ich habe mich nicht schuldig gefühlt, aber wenn ich zurückschaue, war ich dir gegenüber ziemlich egoistisch. Wir stehen uns heute sehr nahe, aber wir haben im Teenageralter einiges verpasst, was das Schwesternsein angeht.
Mama und Papa haben sich kurz bevor du krank wurdest getrennt. Als du dann magersüchtig wurdest, haben sich alle darauf konzentriert. Ich war ganz allein mit all der Wut und Frustration wegen ihrer Scheidung. Wegen dem, was mit dir passiert ist, hatte ich das Gefühl, die Starke sein zu müssen.
Ich erinnere mich auch, dass ich dir helfen wollte, aber immer alles falsch machte. Als du in die Klinik kamst, habe ich dir eine Karte gebastelt und die ganze Schule hat unterschrieben. Ich hatte nicht verstanden, dass das eine Sache war, die du lieber geheim gehalten hättest.
Du hast mal gesagt, dass deine eigenen Unsicherheiten bezüglich deines Körpers daher rühren, dass du mit einer Schwester aufgewachsen bist, die davon besessen war, dünn zu sein. Ich muss immer wieder daran denken - Ich fühle mich so schuldig.
Wenn ich hungrig war, aß ich seltsamerweise immer sehr viel mehr als ich gebraucht hätte, weil ich befürchtete magersüchtig zu werden. Davor hatte ich wirklich Angst. Aber ich glaube deine Besessenheit vom Hungern und Dünnsein hat mich vor allem verunsichert. Ich dachte, dass du mich abstoßend findest, weil ich aß und einen „normalen“ Körper hatte.
Aber das war die Magersucht, nicht ich. Warst du damals in der Lage die Krankheit getrennt von mir zu betrachten?
Ich muss durchaus verstanden haben, dass du an einer Krankheit leidest. Ich habe nie gedacht, dass das deine Schuld ist. Was mich aufgeregt hat, ist, dass du die Magersucht selbst nicht von dir getrennt sehen kannst. Du begreifst sie nicht als eine psychische Krankheit - du sprichst ja nicht einmal darüber. Ich glaube, deshalb hast du auch Angst, sie könnte zurückkommen, aber sie wird nicht immer ein Teil von dir sein. Ich glaube, dass sie immer in mir sein wird und das macht mir wirklich Angst. Ich spreche nicht darüber, weil ich mich davor fürchte diesen Teil von mir noch einmal freizulassen. Ich musste so hart arbeiten, davon loszukommen und ich hatte solche Angst, die Leute könnten in mir nicht mehr sehen als meine Krankheit, sodass ich die Erinnerung einfach aus meinen Leben verbannen wollte. Ich glaube, ich versuche einfach zu vergessen und hoffe, dass die Leute, die mich kennen, es auch vergessen werden. Aber ich habe Angst, dass du es nie vergessen und es mir immer wieder vorwerfen wirst. Als es mir wieder besser ging, hatte ich das Gefühl, dass du immer noch böse auf mich warst. Du musstet die Krankheit so viele Jahre ertragen und plötzlich ging es mir wieder besser und machte einfach weiter. Bist du böse auf mich? Nein, ich bin glücklich, dich wiederzuhaben. Irgendwie ist die Erinnerung daran, wie du warst als du krank warst, einfach verschwunden, als es dir wieder besser ging. Du solltest dich nicht so schuldig fühlen und um ehrlich zu sein, ist das Leben auch viel zu kurz. Es sind gerade einmal zwei Jahre vergangen, seit es dir wieder besser geht - wenn du etwas mehr Abstand von der Magersucht hast, kannst du vielleicht zurückblicken und gründlich darüber nachdenken. Wenn ich ehrlich bin, sieht es bei mir nicht anders aus. Wann hattest du das erste Mal wieder das Gefühl, dass wir Schwestern sind? Als wir wieder angefangen haben, gemeinsam auszugehen und Spaß zu haben. Ich habe dich angesehen und dachte mir, wie sehr du dich verändert hattest: Du warst nicht mehr ruhig und krank, sondern selbstbewusst und hattest deinen Spaß. Ich war ein bisschen irritiert, aber auch so glücklich, endlich meine Schwester wieder zu haben. Ich glaube, diese Sache hat unserer Beziehung noch stärker gemacht. Ich habe mich dir immer schon genauso als Freundin verbunden gefühlt, wie als Schwester. Wir sind uns so ähnlich und das habe ich am meisten an der Magersucht gehasst. Sie hat uns all das genommen. Ich liebe es, mit dir über Dinge zu lachen, die sonst niemand lustig findet. Aber am wichtigsten ist, dass es dir wieder gut geht. Ich habe die Person wieder, mit der ich über alles reden kann, die für mich da ist, egal was passiert.
Ich muss durchaus verstanden haben, dass du an einer Krankheit leidest. Ich habe nie gedacht, dass das deine Schuld ist. Was mich aufgeregt hat, ist, dass du die Magersucht selbst nicht von dir getrennt sehen kannst. Du begreifst sie nicht als eine psychische Krankheit - du sprichst ja nicht einmal darüber. Ich glaube, deshalb hast du auch Angst, sie könnte zurückkommen, aber sie wird nicht immer ein Teil von dir sein. Ich glaube, dass sie immer in mir sein wird und das macht mir wirklich Angst. Ich spreche nicht darüber, weil ich mich davor fürchte diesen Teil von mir noch einmal freizulassen. Ich musste so hart arbeiten, davon loszukommen und ich hatte solche Angst, die Leute könnten in mir nicht mehr sehen als meine Krankheit, sodass ich die Erinnerung einfach aus meinen Leben verbannen wollte. Ich glaube, ich versuche einfach zu vergessen und hoffe, dass die Leute, die mich kennen, es auch vergessen werden. Aber ich habe Angst, dass du es nie vergessen und es mir immer wieder vorwerfen wirst. Als es mir wieder besser ging, hatte ich das Gefühl, dass du immer noch böse auf mich warst. Du musstet die Krankheit so viele Jahre ertragen und plötzlich ging es mir wieder besser und machte einfach weiter. Bist du böse auf mich? Nein, ich bin glücklich, dich wiederzuhaben. Irgendwie ist die Erinnerung daran, wie du warst als du krank warst, einfach verschwunden, als es dir wieder besser ging. Du solltest dich nicht so schuldig fühlen und um ehrlich zu sein, ist das Leben auch viel zu kurz. Es sind gerade einmal zwei Jahre vergangen, seit es dir wieder besser geht - wenn du etwas mehr Abstand von der Magersucht hast, kannst du vielleicht zurückblicken und gründlich darüber nachdenken. Wenn ich ehrlich bin, sieht es bei mir nicht anders aus. Wann hattest du das erste Mal wieder das Gefühl, dass wir Schwestern sind? Als wir wieder angefangen haben, gemeinsam auszugehen und Spaß zu haben. Ich habe dich angesehen und dachte mir, wie sehr du dich verändert hattest: Du warst nicht mehr ruhig und krank, sondern selbstbewusst und hattest deinen Spaß. Ich war ein bisschen irritiert, aber auch so glücklich, endlich meine Schwester wieder zu haben. Ich glaube, diese Sache hat unserer Beziehung noch stärker gemacht. Ich habe mich dir immer schon genauso als Freundin verbunden gefühlt, wie als Schwester. Wir sind uns so ähnlich und das habe ich am meisten an der Magersucht gehasst. Sie hat uns all das genommen. Ich liebe es, mit dir über Dinge zu lachen, die sonst niemand lustig findet. Aber am wichtigsten ist, dass es dir wieder gut geht. Ich habe die Person wieder, mit der ich über alles reden kann, die für mich da ist, egal was passiert.
Dieser Artikel ist ursprünglich in der Mind-Ausgabe des Ladybeard Magazins erschienen. Alle Rechte sind den Autoren vorbehalten.