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Zwischen Leidenschaft und Disziplin: Warum es okay ist, sich im Leben nicht entscheiden zu können

In der Schule vermittelten mir die Lehrer und Lehrerinnen, dass ich nach dem Abitur möglichst schnell studieren solle und mich dadurch letztendlich entscheiden, was ich mein restliches Leben denn so treiben möchte. Wortwörtlich lief es natürlich nicht ganz so, aber ich lernte auch nie etwas über sogenannte 'Fehlentscheidungen', Quereinstiege, Versuche und Neues probieren, Unsicherheit, Planlosigkeit und ein: 'Ich weiß doch noch gar nicht, was ich machen will!'. Es wurde also viel mehr das Bild eines stringenten und fixierten Lebenswegs gezeichnet, als der eines irgendwie schnörkelig verlaufenden. Schon zu Schulzeiten gehörte ich aber zu denjenigen, die sich nie so recht festlegen konnten oder wollten. Von einem Jahr zum anderen wechselten meine Zukunftsvorstellungen von Designerin zu Künstlerin zu Lehrerin zu Schriftstellerin zu Journalistin zu Künstlerin zu Designerin und so weiter und so fort. Ein paar Monate lang, Grey's Anatomy sei dank, schwirrte sogar ein Medizinstudium in meinem Kopf herum.
Ich hatte und habe großes Glück, ich wuchs wohlbehütet auf und genieße den Luxus, mir überhaupt in bestimmten Rahmen Gedanken darüber machen zu können, was genau ich denn jetzt eigentlich, beruflich und finanziell gesehen, anstellen möchte. Dieses Glück haben nicht alle und ich bin dankbar dafür. Gleichzeitig erscheint es mir oft auch als große Anstrengung, als Entscheidungsunfreudige durch das Leben zu schreiten. Jetzt, circa acht Jahre nach dem Abi, habe ich Praktika von Jugendzentrum bis Werbeagentur, viele Jobs von Pizzalieferantin bis Grafikerin und zwei 'abgebrochene' Studiengänge hinter mir. Im Moment stehe ich, im dritten Anlauf, endlich kurz vor dem Bachelor und wieder beschäftigt mich die Frage: Und jetzt? Was will ich denn? Die Entscheidung gegen den stringenten Weg, den direkt an meinen Bachelor anschließenden Master weiterzuführen, ist bereits gefallen. Alles andere: mal wieder offen. 'Offen' und 'Offenheit', das sind positiv konnotierte Begriffe. Außerdem weiß ich mittlerweile, und das auch zu schätzen, dass sich meine Schwierigkeiten, mich auf Einzelnes festzulegen, vor allem aus meinen zahlreichen Interessen und Leidenschaften ergeben. Und es ist doch eigentlich gut, viele Leidenschaften zu haben. An diesem Gedanken festzuhalten aber gar nicht so einfach. Häufig habe ich das Gefühl, es würde von außen erwartet, dass man sich festlegt. Dass man das doch dann jetzt auch 'durchzieht'. Dass es irgendwie gar nicht so toll konnotiert ist, wenn man sich umentscheidet. Offenheit wird zu Disziplinlosigkeit. Bin ich vielleicht wirklich disziplinlos? Oder bin ich so sehr dem tunnelsichtigen Individualisierungsdrang der Spätmoderne verfallen, dass ich immer noch mehr und noch mehr und noch mehr Selbstoptimierung in meiner Bildung betreiben möchte? Mache ich das Arbeiten zu meinem Leben? Oder ist es andersherum: Sind es dann doch die Leidenschaften, denen ich folge und der Wunsch danach, mich mit den Dingen zu beschäftigen, die ich wirklich liebe?
Manchmal weiß ich es nicht genau. Ich weiß aber, dass es mich frustriert oder verunsichert, wenn ich mich jedesmal rechtfertigen muss, wenn ich meinen Kommiliton*innen oder anderen Bekannten erzähle, dass ich vielleicht, neben dem Arbeiten, doch einen anderen Master oder gar noch einen Bachelor oder eine Ausbildung an mein Studium hängen möchte. Entsetzte Gesichter, große: „Waaas?“ und „Was willst du denn dann stattdessen machen?“ Nicht immer, aber oft, wird mit meinem vermeintlichen 'Abbruch' gehandelt, als würde es alles löschen, was mir das Studium gegeben hat, als wäre es schnurstracks der Weg ins Unglück.
Einmal fühlt sich das blöd und anstrengend an, weil ich Energie dafür aufwenden muss, die Unsicherheit der anderen, die ich in mir selbst über meine Entscheidungen vielleicht gar nicht trage, dann wirklich von mir fernzuhalten. Zudem vermitteln mir diese Reaktionen, wenn auch nicht beabsichtigt, irgendwie ein Gefühl von Unvermögen. Als wäre ich 'nur' mein Studium oder nicht fähig genug, auch anders mein, und wenn auch 'nur' finanzielles, Glück zu finden. So pendelt meine Entscheidungsunfreudigkeit oder Offenheit im eigenen Empfinden immer zwischen Fluch und Segen. Fluch, weil es anstrengend ist, das Gefühl zu haben, immer wieder umdenken zu müssen, immer wieder etwas anderes zu wollen, Wege zu finden, dorthin zu kommen; manchmal das Gefühl zu haben, gar nicht richtig auf die eigenen Wünsche zugreifen zu können, wenn ich jeden zweiten Tag meine Vorstellungen und Zukunftsvisionen ändere.
Segen, weil ich es mag, dass mich vieles interessiert und ich, über die Jahre entwickelt, auch vieles gut kann. Weil es für meine Motivation spricht, dass ich bereit bin, immer nochmal Neues zu versuchen und für meinen Mut, mich umzuentscheiden und nicht Etwas zu verfolgen, das mein Herz nicht zum Schlagen bringt, sondern mich nur frustriert. Ich glaube, das sind große Privilegien in einer Zeit, in der der westliche Mensch mit seinen Bedürfnissen und Wünschen immer mehr mit seiner Arbeit verschmelzen soll; in der, so finde ich, so viel Selbstidentifikation mit dem, 'was man macht', zusammengeht. Auch das kann Fluch und Segen sein. Es kann bedeuten, dass man sich der Arbeit als 'Arbeit als Leben' unterordnet und die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt. Es kann aber auch bedeuten, dass man den Anspruch hat, von Etwas zu leben oder sich für Etwas Zeit zu nehmen, das einen wirklich erfüllt und mit den eigenen Wünschen einhergeht. Ich glaube, es gibt auf diese Fragen und Widersprüche keine klaren Antworten, nur die Möglichkeit, sich zu trauen, mit dem eigenen Gefühl zu gehen. Worüber ich mir sicher bin, ist, dass ich mich so schnell nicht verändern werde. Wahrscheinlich bleibe ich mein Leben lang der 'eher unentschlossene' oder: besonders offene Typ. Nichts da stringenter Weg. Ich werde alles daran setzen, das zu meinem Segen zu machen.

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