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Nennt mich nicht „bipolar“ – ich habe Zyklothymie

Illustration: Assa Ariyoshi
„Manchmal, wenn ich gerade bei der Arbeit oder zu Hause bin und alles eigentlich ganz gut läuft, kann es passieren, dass eine Kleinigkeit meine Stimmung plötzlich drastisch verändert.“
Die 23-jährige Shannon Vanderstreaten arbeitet in einem Kinderheim und vermutet, dass sie an Zyklothymie, einer Form von Bipolarität, leidet. Zwischen 1,5 bis 5 Prozent der deutschen Bevölkerung haben mit einer bipolaren Erkrankung zu kämpfen. Shannon durchlebt keine extremen manischen Hochs und depressiven Tiefs, die ihr von ihrer manisch-depressiven Mutter (sie bevorzugt diesen Begriff) bekannt sind, ihre Stimmung kann aber auf einmal drastisch umschlagen – als sei bei ihr ein innerer Stimmungsschalter umgelegt worden.
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„Meine Stimmung verändert sich zyklisch, also in bestimmten Abständen – von einem Moment auf den anderen, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt –, weshalb ich denke, dass meine Symptome am ehesten einer zyklothymischen Störung zugeschrieben werden können.“
Bei einer Zyklothymie leiden die Erkrankten an einer andauernden Instabilität der Stimmung, die gekennzeichnet ist von einem Wechsel zwischen zahlreichen depressiven Phasen und Etappen mit leicht gehobener Stimmung. In Expert:innen-Kreisen wird aber versucht, diese Bezeichnung zu vermeiden. Der Grund? Klinisch betrachtet können die Symptome dieser Erkrankung zwar vergleichsweise mild sein, dennoch ist ein Leben mit dieser Stimmungsstörung keinesfalls weniger belastend. Diesen Punkt zu verstehen, ist wichtig. Nur so ist es möglich, die eigene Erkrankung ernst zu nehmen und zu erkennen, wenn professionelle Hilfe vonnöten ist.
In einem klinischen Kontext bedeutet „mild“, dass sich die Stimmung allmählich verändert – von einem Stimmungshoch über einen mittleren Stimmungszustand (auch Euthymie genannt) bis hin zu einem Stimmungstief, was den Anzeichen einer bipolaren Krankheit sehr ähnelt. Im Gegensatz dazu sind die Schwankungen aber nicht extrem genug, um als Manie oder Depression kategorisiert werden zu können. Statt einer manischen Phase durchleben Betroffene einen weniger intensiven hypomanischen Schub. Gleichzeitig sind Stimmungstiefs weniger schwerwiegend, weshalb die Funktionsfähigkeit der Betroffenen nicht beeinträchtigt wird.
„Menschen mit Zyklothymie können ihren Alltag normalerweise noch recht gut meistern, sind aber dennoch von ihren Stimmungsschwankungen betroffen“, sagt Molly, Mitarbeiterin der Wohltätigkeitsorganisation Bipolar UK. Bei manchen Menschen entwickelt sich Zyklothymie zu einer bipolaren Störung; bei anderen verschlimmern sich die Symptome nicht mit der Zeit.
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Obwohl die Hoch- und Tiefpunkte zwar nicht so extrem sind wie bei einer bipolaren Störung, unterscheidet sich Zyklothymie dennoch von „gewöhnlichen Stimmungsschwankungen“. Wir alle verfügen über ein breites Spektrum an Emotionen. Wenn etwas Unangenehmes bei der Arbeit passiert und du deshalb ein paar Tage lang traurig bist, handelt es sich dabei aber noch lange nicht um eine Form von klinischer Depression. Genauso wenig ist es ein Fall von Hypomanie, wenn du dich zum Beispiel eine Woche lang über gute Nachrichten freust. Der entscheidende Unterschied sind hier die Dauer und Auswirkungen der Stimmungsschwankungen. „Beim Erstellen von Diagnosen wird oft darauf geachtet, wie lange eine bestimmte Stimmung anhält“, erklärt Molly. Insbesondere wird dabei beobachtet, wie lang ein Stimmungstief oder -hoch für gewöhnlich anhält und wie stark es sich auf die Funktionsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt. Bei Zyklothymie wird auch unter die Lupe genommen, wie oft extreme Veränderungen auftreten. Eines der Diagnosekriterien bei dieser psychischen Störung ist, dass ein stabiler Zustand nie länger als zwei Monate am Stück aufrecht gehalten werden kann.
Shannon wurde noch nicht offiziell diagnostiziert. Sie hat aber damit begonnen, ihren Stimmungsverlauf zu beobachten. Weil sie auf diese Weise einen soliden Beweis dafür hat, was ihrer Meinung nach vor sich geht, wird es später außerdem einfacher sein, eine Diagnose für ihren Zustand zu stellen. Allerdings hat sie noch ihre Bedenken, wenn es um das Thema professionelle Unterstützung geht, und zögert, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
„Ich durchlebte vor Kurzem eine Phase mit den extremsten Stimmungsschwankungen, die ich je hatte. Das hat mir vor Augen geführt, dass ich wahrscheinlich mit jemandem sprechen sollte. Irgendeine mentale Blockade hält mich aber jedes Mal davon ab. Das ist ganz untypisch für mich. Ich habe an sich nämlich überhaupt kein Problem damit, mich an Ärzt:innen zu wenden, wann immer ich irgendwelche körperlichen Beschwerden habe. Ich war aufgrund meines psychischen Gesundheitszustandes auch schon zweimal bei einer Beratungsstelle. Es scheint mir aber, dass es nichts gibt, das sie in dieser Hinsicht für mich tun können.“ Abgesehen von Shannons Zögern ist da auch noch eine zusätzliche Herausforderung, die mit der Pandemie zu tun hat: Persönliche Beurteilungsgespräche sind derzeit nur eingeschränkt oder bedingt möglich. Außerdem ist da noch ein anderes Hindernis; sie gesteht: „Es gibt auch einen Teil von mir, der in Wahrheit nichts von einer Diagnose oder Behandlung hören will, weil die manischen Erfahrungen eigentlich ganz unterhaltsam sein können!“ Trotz ihrer Unschlüssigkeit hat sie ihre Stimmung bereits drei Monate lang genau beobachtet und wird dies auch weiterhin tun. So sehr sie die Hochs auch genießt, so sehr macht sie sich aber auch Sorgen um ihre Tiefs. „Es stört mich, dass mich Kleinigkeiten zum Ausrasten bringen. Außerdem habe ich ständig Angst davor, dass ich mich meinem Freund gegenüber auf missbräuchlich verhalten könnte, wann immer es zu einem abrupten Stimmungswechsel kommt.“
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Wenn du dir jetzt Sorgen darüber machst, ob du oder jemand, der dir am Herzen liegt, vielleicht an Zyklothymie leiden könnte, gibt es Molly zufolge eine Reihe von Dingen, auf die du achten solltest. Deine Lebensführung scheint hier aber eine besonders wichtige Rolle zu spielen. „Bei vielen Menschen wirken sich Veränderungen des Lebensstils negativ auf ihre psychische Gesundheit aus. Es ist also wichtig, deinem Schlafverhalten und Umgang mit Stress Beachtung zu schenken.“ Unterschiedliche Formen von Stress haben auch unterschiedliche Auswirkungen: Stress in Verbindung mit dem Wohlergehen eines Familienmitglieds oder den Auswirkungen von Trauer wirken sich andere aus als Stress, der mit deiner Arbeit verbunden ist. Manche Menschen wiederum haben eine genetische Veranlagung für psychische Erkrankungen, die mit dem Konsum von illegalen Drogen in Zusammenhang stehen können, sodass diejenigen, die viele Aufputschmittel nehmen oder viel Gras rauchen, eher Symptome entwickeln.

Es stört mich, dass mich Kleinigkeiten zum Ausrasten bringen. Außerdem habe ich ständig Angst davor, dass ich mich meinem Freund gegenüber auf missbräuchliches Weise verhalten könnte, wann immer es zu einem abrupten Stimmungswechsel kommt.

Shannon, 23
„Es ist noch unklar, warum, aber manche Menschen können nach der Geburt eine Psychose oder Stimmungsschwankungen entwickeln, die auf hormonelle Veränderungen zurückzuführen sind. Wenn du also planst, demnächst Mutter zu werden, du gerade schwanger bist oder vor Kurzem entbunden hast, ist es wirklich wichtig, dass du über deine Erfahrungen sprichst, solltest du anfangen zu bemerken, dass du extreme Stimmungsschwankungen durchlebst. Such Hilfe auf, auch wenn du vielleicht Bedenken hast.“
Mit einer Kombination aus Medikamenten, Therapien und persönlichen Bemühungen, dich über psychische Erkrankungen schlauzumachen, ist es möglich, Zyklothymie unter Kontrolle zu bekommen – und das sogar unter den aktuellen Umständen, durch die der Zugang zu Behandlungen nur beschränkt oder bedingt möglich ist. Molly warnt davor, eine Selbstdiagnose zu stellen oder zu versuchen, sich auf welche Weise auch immer selbst zu behandeln.
„Der Grund, warum wir keine Selbstdiagnose empfehlen, ist, dass unsere psychische Gesundheit so komplex ist. Das ungeschulte Auge nimmt allerlei Symptome als Bipolarität wahr, obwohl es sich dabei um andere Störungen handeln kann: Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angst- und Panikstörungen werden von Laien häufig der Kategorie „bipolare Störung“ zugeordnet. Es gibt auch einige körperliche Erkrankungen, die Bipolarität zuzuschreiben sind. Deshalb ermutigen wir Betroffene, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Leg einen Termin in deinem Kalender fest. So hast du eine Deadline, die dir erlaubt, deine Stimmung über eine bestimmte Zeitspanne hinweg zu beobachten. So kannst du beim nächsten Arzttermin auf Ungewöhnliches hinweisen. „Gemeinsam könnt ihr herausfinden, was du selbst tun kannst, um das Kommando über deine Stimmungsschwankungen zurückzuerlangen – so weit es geht: Dinge wie das Beobachten deiner Stimmung, das Erkennen von Auslösern, Aktivitäten, um für Entspannung zu sorgen, die außerdem auch förderlich für deinen Schlaf sind, und das Vermeiden von Stress. All diese Maßnahmen können hilfreich dabei sein, dein Gemüt zumindest vorübergehend etwas unter Kontrolle zu haben. So wirst du die Zeit überbrücken können, bis du wieder voll und ganz mit professioneller Unterstützung rechnen kannst.“
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