Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wann es begann. Ich glaube, es muss so vor fünf, sechs Jahren gewesen sein, als mich ausgerechnet eine Kollegin darauf aufmerksam machte, dass bei mir ja schon das eine oder andere silberne Haar sichtbar sei. Obwohl sie es nett umschrieb, verschluckte ich mich an meinem Kaffee – nicht, weil ich das mit den grauen Haaren nicht schon selber bemerkt hätte, sondern, weil sie es in Anwesenheit meines damaligen Chefs und der gesamten Mannschaft angesprochen hatte. Alle Augen waren auf mich gerichtet und ich wusste, dass jeder ihrer Blicke meinen Haarsträhnen galt.
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Nun ja, ich war peinlich berührt. Immerhin war ich noch nicht einmal 25 und kriegte bereits graues Haar. Bis zu jenem Tag hatte mich noch niemand darauf hingewiesen, und ich hatte die Tatsache so gut es ging verdrängt. Aber plötzlich war es raus und es verging kein Morgen mehr, an dem ich nicht vor dem Spiegel den Schädel nach grauen Haaren absuchte. Hatte ich eines gefunden, wurde es ohne Skrupel mit der Pinzette an der Wurzel gepackt und rausgerissen. Eine Zeit lang klappte das ganz gut. Aber jetzt, sechs Jahre später, komme ich mit dem Rausreißen nicht mehr hinterher. Ich befürchte, wenn ich das Rausreißen nicht bald sein lassen kann, laufe ich Gefahr, demnächst den Kahlkopf-Trend einzuführen. Entweder ich stehe fortan zu meiner grauen Strähne, die sich rechts vom Scheitel im unteren Deckhaar befindet und mittlerweile bis in die Spitzen vorarbeitet, oder ich fange an zu färben.
Das habe ich früher schließlich auch schon getan. Von schwarz über rot bis blond – ich habe mich fast durch die gesamte Drogerie-Farbtuben-Palette probiert. Das Färben machte mir in meiner Jugend richtig Spaß, weil ich dadurch etwa alle drei Monate in eine andere Rolle schlüpfen konnte. Mal war ich mehr der kalte Typ, dann wieder in Hippie-Stimmung und kurze Zeit später wollte ich eine feurige Blondine sein. Je sprunghafter ich auf der Suche nach meiner Identität war, desto öfter wechselte ich die Haarfarbe. Doch irgendwann hatte ich genug davon und meine Haare sowieso. Sie brauchten dringend eine Pause von all den Torturen, die ich ihnen zugemutet hatte. Also beendete ich die Färberei und überließ meiner natürlichen Haarfarbe das Feld. Endlich hatte ich eine Farbe gefunden, die zu mir passte, nur gingen dann leider meine Farbpigmente zur Neige, womit wir wieder bei der grauen Strähne angekommen wären, die ich mir so nicht ausgesucht hatte.
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Inzwischen ist der Granny Look ja eigentlich schon salonfähig. Rihanna färbte sich ihre Mähne vor einigen Jahren grau-anthrazit und löste damit einen Graufärbetrend aus, auf den vorübergehend viele junge Frauen aufgesprungen sind; Sophie Fontanel ist durch ihre grauen Haare eine Stilikone der Mode geworden. Man könnte also auf seine grauen Haare stolz sein, statt sich ihrer zu schämen. Und wofür schämt man sich da eigentlich? Warum haben ich und viele andere Frauen ein Problem mit grauen Haaren?
Wenn man es nüchtern betrachtet, dann fehlen grauen Haaren einfach nur Pigmente, was dazu führt, dass sie farblos nachwachsen und wir sie eben als grau wahrnehmen. Ursachen dafür gibt es viele. Bei den einen ist es Stress, bei anderen genetische Veranlagung. Das eigentliche Problem ist wohl eher, dass das Grauwerden primär als Zeichen der Alterung interpretiert wird, und mit dem Älterwerden ist das ja immer so eine Sache. Viele setzen das Grauwerden mit einer Art des körperlichen Niedergangs gleich, mit einem Mangel an Weiblichkeit oder gar erotischer Ausstrahlung. Tritt das „Grauen" dann so wie bei mir auch noch früher als gedacht ein, passt da irgendetwas überhaupt nicht mehr zusammen. Ich werde zwar älter, aber bin noch nicht alt. Ich bin 31. Ich bin zwar keine 18 mehr, aber behaupte, mitten in der Blütezeit meines Lebens zu stehen. Ach, Quatsch, ich weiß es. Meiner Meinung nach gibt es überhaupt kein besseres Alter. Wie nun also diese graue Haarsträhne einordnen?
Mittlerweile halte ich es wie Susan Sontag, eine amerikanische Publizistin und Regisseurin (und überdies sehr intelligente Frau), die ganz bewusst eine markante graue Haarsträhne in ihrem Scheitel stehen ließ, während sie das restliche Haar tiefschwarz färbte. Ihre empor flammende Strähne war lange Zeit ihr Markenzeichen, Sontag hielt nichts davon, sich zu verstecken, sondern hat ihre Strähne eingesetzt, um ein bestehendes Tabu zu brechen. Grau als exzentrische Geste des Aufbegehrens, als Zeichen des Ungehorsams, eine Spitze gegen das Patriarchat, das irgendwann einmal beschlossen hatte, wie Frauen in welchem Alter auszusehen haben.
Zwar bin ich nicht ganz so kämpferisch veranlagt wie Sontag, aber in einem Punkt hat sie recht: Ich möchte mich, genau wie sie, nicht verstecken, das Haar nicht wieder schwarz, rot oder blond überfärben, nur damit man meine graue Strähne nicht sieht. Das würde sich tatsächlich wie eine Lüge anfühlen. Veränderungen des Körpers gehören dazu, davon werden mich in meinem Leben noch einige heimsuchen. Früher oder später wird es jede und jeden treffen. So ist das eben. Wichtig ist, dass wir uns von den Vorstellungen, wann man als Frau wie auszusehen hat, frei machen. Denn dann würden wir uns vielleicht alle ein bisschen besser fühlen. Grau kommt eben nicht von „Grauen“, wir machen es nur dazu!