Ich bin absolute Expertin in Sachen Bob. Sobald meine Haare auch nur meine Schultern kitzeln, will ich am liebsten direkt einen Friseurtermin buchen, um sie schneiden zu lassen. Diese Art Zwang hat dazu geführt, dass ich schon quasi jeden Bob ausprobiert habe – vom „italienischen Bob“ (grob geschnitten und dann lässig auf einer Seite getragen) bis hin zum „Flipped French Bob“ (der den Kiefer umspielt und das Gesicht dank mehrerer Stufen schön einrahmt). Im letzten November ließ ich mir aber meinen bisher kürzesten Schnitt verpassen: den „Boyfriend-Bob“.
Es gehört zu meinem Job, den endlosen Beauty-Trend-Zyklus mitzumachen – auch, was meine Haare angeht. Im November war der Boyfriend-Bob laut Google-Trends einer der beliebtesten Cuts überhaupt, inspiriert von unseren Boyband-Schwärmen der 90er. Ich habe ihn schon mal mit „Nick Carter meets Leonardo DiCaprio in Titanic, mit einem Hauch von Natalie Imbruglia zu ihrer Torn-Zeit“ beschrieben. Ganz unabhängig von allen Trends verspüren viele von uns ohnehin gegen Ende oder Anfang des Jahres den Wunsch, sich selbst ganz neu zu erfinden. Du kannst dir vorstellen, wie überrascht mein Partner war, als ich nach dem Termin plötzlich mit zehn Zentimetern weniger Haaren nach Hause kam.
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Zusammen mit meiner neuen Frisur bekam ich dabei gleichzeitig quasi eine neue Persönlichkeit verpasst: Ich fühlte mich cooler und selbstbewusster, und shoppte ein paar lockere Blazer, Hemden und Stoffhosen, um den androgynen Vibe ein bisschen stärker auszuleben. Ein Video von meinem Friseurtermin postete ich bei TikTok, und kassierte dafür Komplimente von Freund:innen und Fremden gleichermaßen. Nach kurzer Zeit ging der Clip aber viral – und meine Haare schienen die Meinungen zu spalten.
Die Vergleiche mit dem Bösewicht aus Shrek, Lord Farquaad, fand ich noch ganz lustig (und damit hatte ich ehrlich gesagt auch gerechnet). Aber dann verglich mich jemand mit Johnny Depp als Willy Wonka, und ein anonymer Kommentar teilte mir mit, ich sähe „furchtbar“ aus. Ich versuchte, es mit Humor und mir definitiv nicht zu Herzen zu nehmen. Immerhin waren das nur irgendwelche Deppen aus dem Internet.
Mittlerweile sind viele Monate vergangen, und mein Haar ist ordentlich nachgewachsen. In den letzten Wochen habe ich aber von diversen Freund:innen und Verwandten ihre ehrlichen Meinungen gehört. Eine Freundin zog mich im Restaurant letztens zur Seite, um mir zuzuflüstern, dass ihr mein längeres Haar deutlich besser gefiel. Meine Mutter bat mich sogar darum, mir die Haare nicht wieder so kurz schneiden zu lassen. Und die beiden sind nicht die Einzigen, die ihre verzögerte Abneigung zu meinen kurzen Haaren kundtun mussten. Während mir immer mehr Bekannte verrieten, wie ihnen meine Frisur wirklich gefallen hatte, fing ich an, alles zu hinterfragen: Wieso hassten so viele Leute meinen Bob? Und steckt was Tiefgründigeres dahinter als bloß: „Die Frisur steht dir einfach nicht“?
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Die Geschichte des Bobs
Der Bob ist eine der (laut Google) meistgesuchten Frisuren. Jede Woche landen ganz neue Formen und Styles in den Google-Trends. Interessanterweise ist „very short bob hairstyles“ in diesem Monat ganz vorne mit dabei. Aber trotz der zahlreichen Suchanfragen und Promi-Fans – inklusive Kim Kardashian und Zendays – ist der Bob schon lange kontrovers.
Den Bob-Schnitt gibt es schon seit Jahrhunderten, doch wurde er erst in den 1920ern zum Symbol weiblicher Stärke und sozialer Rebellion. „Der ‚Flapper‘-Style der 1920er sollte ein politisches und moralisches Statement setzen“, erklärt mir die Historikerin Dr. Amy Boyington. „Nach dem ersten Weltkrieg wollten junge Frauen nicht in die traditionellen Frauenrollen zurückkehren, in denen sie Männern ‚untergeordnet‘ waren. Sie wollten frei und unabhängiger sein.“ Dr. Boyington zufolge galt das Abschneiden ihrer langen Haare – die in vorherigen Generationen enorm geschätzt wurden – als die Abkehr von traditionellen weiblichen Werten. „Das bedrohte den damaligen Status Quo. Männer und ältere Frauen waren empört und empfanden ‚Flappers‘ als moralisch verwerflich, promiskuitiv, unkontrollierbar, ‚unladylike‘ und wild“, erklärt Dr. Boyington.
Trotz der Empörung wurde der Bob schnell zum Trend, und berühmte Schauspielerinnen wie Josephine Baker und Louise Brooks ließen sich die Haare kurz schneiden. Dieser Umbruch traditioneller Gender-Normen kam aber nicht überall gut an – vor allem bei den Männern. In ihrem Buch Entanglement: The Secret Lives of Hair schreibt Prof. Emma Tarlo, der Bob habe im Amerika der 1920er für „Chaos zu Hause“ gesorgt, vor allem für Väter, die „entsetzt vom Verlust“ der Haare ihrer Töchter waren. Auch in Großbritannien und Frankreich sah es ähnlich aus, schreibt Tarlo: „Es wurden alle Register gezogen, um junge Frauen vor den Gefahren und der Sünde dessen zu warnen, sich die langen Haare abschneiden zu lassen. So gab es zum Beispiel die abschreckende Geschichte von Isabel Marginson, einer 22-jährigen Weberin aus Preston, die sich selbst im örtlichen Kanal ertränkte, weil sie den Anblick ihres neuen Bobs nicht ertragen konnte.“ Solche Reaktionen auf den Bob-Trend wirken aus heutiger Perspektive völlig absurd. Klar war aber, dass die Abkehr von konventionellen Schönheitsidealen viele Leute verängstigte: „Das Abschneiden der Haare von Frauen ließ die Grenzen, die Männer von Frauen trennten, verschwimmen – und umgekehrt“, schreibt Tarlo weiter.
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Seit den 1920ern gibt es den Bob in vielen verschiedenen Formen. In den 1960ern kreierte der Friseur Vidal Sassoon den „Sassoon-Bob“, erzählt Haarstylist und Trend-Prognostiker Tom Smith. Das war ein revolutionärer Kurzhaarschnitt für die moderne Frau. „Sassoon wurde für seine Präzision und seine geometrischen Schnitte berühmt“, fügt Smith hinzu. Damit stand die Friseur im Kontrast zum weichen, verwuschelten und typisch femininen Bob der vorhergehenden Jahrzehnte. In den 90ern wurde der Bob dann noch androgyner, in Kombination mit einem starken Mittelscheitel und grob geschnittenen Spitzen.
Heute, im 21. Jahrhundert, sollte man meinen, die Einstellung zu dieser uralten Frisur habe sich mittlerweile geändert. Der Frauen-Kurzhaarschnitt ist aber kontrovers wie eh und je. In einem Artikel für Refinery29 von 2018 beschäftigte sich die Beauty-Redakteurin Parisa Hashempour damit, wieso alle Männer in ihrem Leben eigentlich so wütend auf ihre neue Kurzhaarfrisur reagiert hatten. Sie kam zu dem Schluss, dass die Haare „als Marker der Gender-Identität dienen. Wenn Frauen sich dazu entscheiden, dagegen vorzugehen, werden sie scheinbar als Bedrohung empfunden.“ Auch Jahre später hat sich dahingehend kaum etwas geändert. Auf TikTok erzählt eine Frau zum Beispiel, ihr Freund fände ihren Bob regelrecht abstoßend. Und dieses Jahr taufte die TikTokerin A. Marie den Bob einen „man-repeller“, also einen „Männer-Abschrecker“: „Jedes Mal, wenn ich von Männern in Ruhe gelassen werden will, lasse ich mir einen Bob schneiden“, schreibt sie zu dem Video. Es sind aber nicht nur Männer, die eine Abneigung gegen Bobs zu haben scheinen. Die Schwester einer Freundin drohte ihr, sie nicht aufs Hochzeitsfoto zu lassen – und sie als Trauzeugin zu „feuern“ –, wenn ihr Bob bis zum großen Tag nicht wieder lang genug war. Tatsächlich kamen die meisten negativen Kommentare zu meiner Frisur von Frauen.
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@talkofthetokk Every time I don’t want to be bothered by men, I get a bob! Hairstylist: @kaykaywrappedit ✂️ #viral #fyp #bob #bobcut #bobcutstyle #trending #hairstyles #blackhairstyle #blackhairtiktok #blackluxurytiktok ♬ It's A Wrap - Sped Up - Mariah Carey
Was ist der „Fuck Ass Bob“?
Bob-Trends haben sich im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt – und aktuell ist insbesondere ein Trend in aller Munde. Gestatten: der „fuck ass bob“, alias „FAB“. Laut dem Urban Dictionary handelt es sich dabei um einen kurzen Bob, der grob oberhalb des Kinns abgeschnitten und mit Mittelscheitel getragen wird. (Also genau mein Bob.) Ein weiterer Eintrag im UD nennt diesen Bob einen „ohrlangen, furchtbaren Bob-Schnitt“. Laut Internet scheint der FAB demnach irgendwo zwischen „elegant“ und „absolut schlimm“ zu liegen. Selbst Kim Kardashian wurde für ihren angeblichen FAB vor Kurzem gemobbt, unter anderem auf TikTok. The Cut nannte ihn „zu stark frisiert“. Der FAB ist inzwischen sogar zum Meme geworden.
@jamienyq Replying to @Kai🫶 #greenscreen who was going to tell me this was a thing, I’m laughing so hard at all the memes #fab #shorthair #bobhairstyle ♬ original sound - Jamie
Dabei ist gerade der FAB unheimlich mutig und hat viel Charakter, meint Manu, Gründerin des Instagram-Accounts The_Bob _Haircut, auf dem sie die besten Bobs aus aller Welt postet. Und es stimmt: So ein Haarschnitt strahlt Selbstsicherheit aus. „Ich bereue es, meine Haare zu einem kurzen Bob habe schneiden zu lassen, weil ich jetzt überall die Hauptrolle spiele“, sagt die TikTokerin Lea Francesca beispielsweise in einem Video, in dem sie mit einem kurzen, strengen Bob zu sehen ist. Und ich stelle mir daraufhin die Frage, ob das Selbstbewusstsein, das der Bob erfordert, auf andere genau deswegen vielleicht eher wichtigtuerisch wirkt.
Du musst deinen Bob nämlich ausleben – egal, was andere davon halten. Direkt nach ihrer Hochzeit 2022 ließ sich die Beauty-Journalistin und Make-up-Artist Mollie Charlotte Burdell die langen Haare zu einem kieferumspielenden Bob kürzen. Sie bereut es überhaupt nicht. „Der Bob ist heute Teil meiner Identität“, erzählt sie mir. „Wenn ich dann noch ein bisschen Dekolleté zeige, fühle ich mich wie die heißeste Frau der Welt. So fühle ich mich am selbstbewusstesten.“ Mollie betrachtet ihren Bob als Charaktereigenschaft. „Ich kann mir nicht vorstellen, je wieder darauf zu verzichten.“
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Auch die Kosmetikerin und Beauty-Redakteurin Alicia Lartey, die Afro-Haare hat, ließ sich die Haare vor Kurzem glätten und zum Bob schneiden. „Ich hatte sehr lange, dicke, lockige Haare und hatte darauf einfach keine Lust mehr“, erzählt sie. „Ich wollte eine Frisur haben, die auch lockig und kurz gut aussieht. Außerdem sollte sie ein bisschen androgyn sein, weil ich mich dieses Jahr endlich mit meiner Sexualität beschäftigt habe. So konnte ich meine nicht-binäre Seite besser ausleben.“ Auf ihre Haare ist sie stolz, meint Alicia, weil sie es ihr erlauben, ihre Persönlichkeit zu erkunden. „Mein Bob gibt mir das Gefühl, das Sagen zu haben. Ich fühle mich damit, als könnte ich ein ganzes Imperium managen, wenn mein Bob gerade richtig gut aussieht. Außerdem verbringe ich damit mehr Zeit mit Leben – und weniger damit, mir Gedanken um meine Haare zu machen.“ Die Freelance-Beauty-Redakteurin und Content Creator Rebecca Fearn empfindet den Bob ebenfalls als befreiend: „Meine Haare sehen heute so viel gesünder, dicker und glänzender aus – und genau diese Haare will ich haben. Ich hatte früher einen sehr kurzen Bob, heute trage ich ihn etwas länger. Er ist ein Vibe, ich liebe ihn. Mit dieser Frisur fühle ich mich am selbstbewusstesten.“
Warum kommentieren wir die Frisuren anderer Leute?
Ich weiß, dass ich mich – wie Kim Kardashian, und andere TikToker:innen mit Bob – dadurch angreifbar mache, Fotos und Videos von mir und meiner Frisur im Netz zu posten. Dadurch erlaube ich es Fremden, ihre Meinung zu meinem Haar kundzutun. Aber ist das auch von meinen Freund:innen und Verwandten okay? Laut Dr. Bridget Bradley, Dozentin für Anthropologie an der University of St. Andrews, sind unsere Haare zwar Teil unserer persönlichen Identität; sie verbinden uns aber gleichzeitig mit anderen. Bei ihrer Arbeit mit den Angehörigen von Menschen mit Trichotillomanie (Haareausreißen) stellte Dr. Bardley fest, dass Mütter eine Art Trauer für ihre Töchter empfinden, die ihre Haare kurz schneiden lassen müssen, um Haarausfall unter Kontrolle zu bekommen. „Das kann einen Verlust der Identität ihrer Töchter symbolisieren“, erklärt sie. „In mancher Hinsicht kann unser Umfeld sehr intensive Gefühle dazu empfinden, was wir mit unseren Haaren machen. Deswegen können unsere Haare eine Möglichkeit dazu sein, die Bindungen innerhalb sozialer Beziehungen zu verstehen.“
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Dr. Bradley zufolge kann genau das erklären, wieso die öffentliche Reaktion auf den Kurzhaarschnitt mancher Frauen so heftig ausfällt. „Wenn wir die öffentliche Reaktion auf das Haareschneiden betrachten, fällt mir immer direkt Britney Spears ein, die sich 2007 den Kopf rasierte. Viele betrachteten das als klares Anzeichen für eine geistige Krankheit. Wir hätten das aber auch als einen Akt der persönlichen Befreiung oder Rebellion ansehen können“, meint Dr. Bradley. Natürlich lesen wir in diese Haar-Symbolik aber auch zu viel hinein. „Für manche Frauen sind kurze Haare eine ganz pragmatische Entscheidung. In manchen Berufen sind die kurzen Haare praktischer – oder für Mütter von jungen Kindern, die an allem reißen oder rumkauen, was sie in die Hände bekommen.“
Welchen Grund du auch dafür hast, dir einen Bob schneiden zu lassen, fest steht: Das erfordert viel Mut. Und trotz all der negativen Kommentare zu meiner Frisur habe ich daraus doch etwas Positives gelernt: Ein Bob lässt dir keinen Freiraum, um dich zu verstecken. Weil mich mein Bob zum Beispiel mit meiner Nase (die ich mir habe operieren lassen) oder meinem starken Kiefer konfrontierte, brachte er mich der Selbstakzeptanz ein großes Stück näher. Tatsächlich habe ich für Ende diesen Monats meinen nächsten Friseurtermin gebucht – und werde mir die Haare definitiv wieder kürzer schneiden lassen. Denk dran: Die Haare wachsen immer nach. Und es sind deine.
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