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Nein, dein Friseurbesuch ist keine Therapiesitzung

Foto: Pexels.
Trennungen, Liebeskummer, Fruchtbarkeitsprobleme und Familienstreitigkeiten – Friseur:innen kennen alle möglichen persönlichen Geschichten. Wenn wir uns entspannen und die Finger eines anderen Menschen in unseren Haaren spüren, neigen wir dazu, unsere Hemmungen fallen zu lassen, und oft kann das Gespräch zu einer kostenlosen Therapiesitzung werden. Der Salonstuhl ist schon lange ein Zufluchtsort, an dem wir instinktiv Trost finden, indem wir dort unsere tiefsten Gedanken und Gefühle mitteilen. Wir wissen es nicht, aber Friseur:innen wiederholen dieselbe Interaktion bis zu acht- oder neunmal am Tag. Kein Wunder also, dass das einen hohen Tribut ihrer psychischen Gesundheit fordert.
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Im Juli diesen Jahres stellte L'Oréal Professionnel Head Up vor, eine Initiative, die sich auf die psychische Gesundheit von Friseur:innen konzentriert, denn Hairstylist:innen verbringen durchschnittlich 2.000 Stunden pro Jahr damit, ihren Kund:innen zuzuhören. Es wird berichtet, dass von den 1.750 befragten Friseur:innen 65 Prozent während ihrer beruflichen Laufbahn Angstzustände, Burnout oder Depressionen erfahren. Derzeit gibt es in der gesamten Branche keine formale Schulung, die Stylist:innen dabei hilft, schwierige Gespräche zu führen und Grenzen gegenüber ihren Kund:innen zu setzen.
Kelly Vowles, Inhaberin des Friseursalons Pixal-Rose Hair Design, betont, dass der Umgang mit dem emotionalen Gepäck ihrer Kund:innen nicht einfach als „Teil des Jobs“ betrachtet werden sollte. „Zu Beginn dieses Jahres musste ich zwei Todesfälle verkraften“, erzählt Kelly. „Ich glaube wirklich, dass meine Genesung dadurch behindert wurde, dass ich mir in meinem Job die Traumata anderer Menschen anhören und darauf reagieren muss. Oder ich werde ständig nach meinem eigenen persönlichen Trauma gefragt, den ganzen Tag über.“ Vowles fährt fort: „Ich bin ein wirklich starker Mensch; ich liebe es zu plaudern. Erst als ich selbst mehrere traumatische Erlebnisse hatte, wurde mir klar, dass dieser Aspekt des Berufs nicht gesund ist.“ Wir „machen oft Witze darüber, dass Friseur:innen als Therapeut:innen arbeiten“, sagt Vowles, aber sie betont, dass die meisten nicht die nötige Qualifikation haben, um mit der Bandbreite an Themen umzugehen, mit denen sie konfrontiert werden.

Was ist Trauma Dumping?

Genau hier liegt das Risiko des sogenannten „Trauma-Dumpings“. „Trauma-Dumping bedeutet, ein traumatisches Erlebnis auf eine Person abzuwälzen, die möglicherweise nicht dafür qualifiziert ist, damit umzugehen“, erklärt die klinische Psychologin Karen Gerber. Infolgedessen kann eine Person ein „sekundäres Trauma“ erleben, das es ihr schwer macht, die Informationen, die sie gerade erhalten hat, zu verstehen oder zu verarbeiten, sagt Gerber. Sie weist darauf hin, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt, ob du dich bei deinem:deiner Friseur:in aussprichst oder eine:n professionelle:n Therapeut:in aufsuchst. „Der Inhalt des Gesprächs mag sich sehr ähnlich anfühlen, aber in Wirklichkeit hat ein:e Therapeut:in eine vier- bis zehnjährige Ausbildung absolviert.“
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Das Hauptproblem ist, dass niemand um Erlaubnis fragt, bevor er oder sie dir etwas erzählt, sagt Jepson. „Niemand fragt: ‚Hast du genug Kapazitäten, um mit meiner Traurigkeit umzugehen?‘“

Hayley Jepson, hairStylistin
Hayley Jepson arbeitet seit 30 Jahren als Friseurin und ist ausgebildete Psychotherapeutin. Ihr Instagram-Account @the.resilient.hairdresser befasst sich mit psychischer Gesundheit in der Friseurbranche und hat sich eine große Fangemeinde unter Stylist:innen und Colorist:innen aufgebaut. „Wenn du Therapeutin bist, kommen die Leute stündlich zu dir und laden ihre Gedanken ab. Du hast eine entsprechende Übereinkunft getroffen, dass das passieren wird“, erklärt Jepson. „Wenn du dich entscheidest, Friseur:in zu werden, stimmst du dem nicht zu. Kund:innen können dir absolut traumatisierende Dinge erzählen oder echt fröhliche Sachen. Es ist ein breites Spektrum.“ Das Hauptproblem ist, dass niemand um Erlaubnis fragt, bevor er oder sie dir etwas erzählt, sagt Jepson. „Niemand fragt: ‚Hast du genug Kapazitäten, um mit meiner Traurigkeit umzugehen?‘“
Jepson erklärt, dass mit den immer länger werdenden Terminen (man denke nur an aufwändige Balayage und komplizierte Stufenschnitte) das Trauma-Dumping ein immer größeres Problem wird, da wir uns in der Gegenwart unserer Friseur:innen wohler fühlen als je zuvor. „Colorist:innen wie ich verbringen heute nicht mehr anderthalb Stunden mit den Kund:innen, sondern vier Stunden“, sagt Jepson. Wenn sich ein: Kund:in die ganze Zeit ablädt, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an seine:n Stylist:in zu verschwenden, ist es kein Wunder, dass Salonangestellte psychische Probleme entwickeln.

Welche Risiken birgt ‚Trauma Dumping‘ für deine:n Stylist:in?

Es ist eine knifflige Situation, die es zu meistern gilt. Wie Saloninhaber Edward James betont, musst du manchmal einfach verstehen, was ein:e Kund:in durchmacht, wenn es darum geht, seine Haare korrekt zu frisieren. „Wenn eine Kundin zu uns kommt und sagt: ‚Ich will mir die Haare abschneiden und eine andere Farbe färben!‘, dann frage ich: ‚Was ist denn in deinem Leben los?‘ Und dann erfährst du, dass sie eine wirklich traumatische Trennung hinter sich hat und auf lange Sicht vielleicht keine so drastische Veränderung will. Es ist also wichtig, das Gesamtbild zu verstehen.“ Rachel Selt, Coloristin, weiß, dass es in manchen Fällen auch für eine:n Friseur:in therapeutisch sein kann, über das zu sprechen, was uns beschäftigt. „Ich habe eine postnatale Depression durchgemacht“, erzählt Selt, „deshalb hat es mir sehr geholfen, wenn ich mich meinen Kund:innen gegenüber öffnen konnte und sie mir von ihren Erfahrungen erzählten.“
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Die tiefe Verbundenheit zwischen Friseur:innen und ihren Kund:innen ebnete den Weg für mehr Verantwortung: Manche übernehmen jetzt auch zusätzliche Aufgaben, um Kund:innen zu helfen, die sich in Schwierigkeiten befinden könnten. Letztes Jahr hat ein neues Gesetz in Tennessee dazu geführt, dass alle Friseur:innen eine Schulung zur Identifizierung häuslicher Gewalt absolvieren müssen. In Großbritannien gründete der Friseur Tom Chapman die Wohltätigkeitsorganisation The Lion’s Barber Collective, ein internationales Team von Friseur:innen, die darin geschult sind, Anzeichen für psychische Erkrankungen zu erkennen, in der Hoffnung, dass dies Männer davon abhalten kann, sich das Leben zu nehmen.

Was viele Friseur:innen nicht wissen, ist, dass sie unter einer „Mitgefühlsmüdigkeit“ leiden - psychologische Auswirkungen (wie Stress und geistige Erschöpfung), die dadurch entstehen können, dass man sich täglich in seine Kund:innen einfühlt.

Haley Jepson, Hairstylistin
Auch wenn es sicherlich lobenswert ist, dass Friseur:innen eine Ausbildung erhalten, die möglicherweise Leben retten kann, sollten wir auch das Wohlbefinden und die Perspektiven der Friseur:innen selbst berücksichtigen. „Kund:innen belasten Friseure jeden Tag – dazu haben wir uns nicht verpflichtet, aber es passiert“, sagt Jepson. „Wir haben keine Ausbildung oder Instrumente, die uns bei der Bewältigung dieses zusätzlichen Stresses unterstützen und helfen. Wir sollten mehr darüber reden, welche Auswirkungen das auf Friseur:innen hat. Sie sind ausgebrannt, erschöpft und haben oft Angst, zur Arbeit zu gehen.“

Was ist Mitgefühlsmüdigkeit?

Was viele Friseur:innen nicht wissen, ist, dass sie unter einer „Mitgefühlsmüdigkeit“ leiden, sagt Jepson. Was viele Friseur:innen nicht wissen, ist, dass sie unter einer „Mitgefühlsmüdigkeit“ leiden, sagt Jepson. Dieser Begriff wird verwendet, um die negativen psychologischen Auswirkungen (wie Stress und geistige Erschöpfung) zu beschreiben, die dadurch entstehen können, dass man sich täglich in seine Kund:innen einfühlt und ihnen zuhört.. Dieser Begriff wird verwendet, um die negativen psychologischen Auswirkungen (wie Stress und geistige Erschöpfung) zu beschreiben, die dadurch entstehen können, dass man sich täglich in seine Kund:innen einfühlt und ihnen zuhört. Eine Studie aus dem Jahr 2020 ergab, dass Mitgefühlsmüdigkeit unsere Fähigkeit beeinträchtigt, klar zu denken und unsere Emotionen auszubalancieren. Die Studie ergab auch, dass sich Menschen mit Mitgefühlsermüdung von anderen zurückziehen, sich sozial isolieren und körperlich erschöpft fühlen können.
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Jepson hat auf Instagram über Mitgefühlsmüdigkeit gesprochen. Das Thema wird in der Welt der Therapie häufig diskutiert wird, aber selten – wenn überhaupt – in Bezug auf das Friseurhandwerk untersucht. „Ich glaube, dass Mitgefühlsmüdigkeit massiv dazu beiträgt, dass Friseure ausbrennen“, sagt Jepson in einem kürzlich veröffentlichten Instagram-Reel, der viele zustimmende Kommentare von leidgeprüften Friseur:innen erhalten hat. Jepson berichtet, dass sie sich von den Gesprächen in ihrem Job erschöpft fühlt. Im Oktober startet sie einen Kurs für Friseur:innen, in dem es um Burn-out und Grenzen geht. „Ich möchte Friseur:innen dazu ermutigen, gut auf sich selbst aufzupassen, damit sie diese Seite des Jobs bewältigen können“, sagt Jepson.
Nachwuchskräfte sind besonders anfällig für Mitgefühlsmüdigkeit und Burn-out. „Ich weiß noch, wie mir eine meiner Kundinnen zum ersten Mal sagte, dass sie Krebs hat. Ich muss 21 gewesen sein“, erinnert sich Andrea Dorata, L'Oréal Professionnel Artist und Inhaberin von Dorata Hairdressing. „Sie war 33, hatte zwei Kinder und war schwanger. Ich beriet sie, wusch ihr die Haare, eilte in den Personalraum und brach in Tränen aus.“ Auch erfahrene Friseur:innen können hierunter leiden. Adam Bennett, Senior-Stylist bei Stonehills Hairdressing, dachte, er hätte sich daran gewöhnt, dass Kund:innen ihr Trauma abladen, aber eine kürzliche erschütternde Begegnung mit einer neuen Kundin hat einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen: „Vor kurzem habe ich einer Kundin die Haare gemacht, die mir erzählte, dass sie von häuslicher Gewalt betroffen war. Das hat mich wirklich erschüttert. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich brauchte eine ganze Woche, um nicht mehr daran zu denken. Es schlich sich immer wieder in meinen Kopf ein. Zum Glück haben wir in meinem Salon Zugang zu einer kostenlosen Beratungsstelle für psychische Gesundheit, aber das hat nicht jeder.“
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Für Stewart Roberts, den Gründer der Wohltätigkeitsorganisation Haircuts 4 Homeless, ist der Schutz der psychischen Gesundheit seines Teams von größter Bedeutung, vor allem wenn er mit obdachlosen Kund:innen arbeitet, die schwere Traumata und Missbrauch erlitten haben. „Kommunikation ist der Schlüssel“, sagt er gegenüber R29. „Wir haben Zugang zu Ressourcen und eine Liste von Organisationen wie die Samariter, an die die Friseur:innen ihre Kund:innen weiterleiten können.“

Woher weißt du, ob du eine:n Therapeut:in aufsuchen solltest?

Bevor er die Wohltätigkeitsorganisation gründete, besaß Roberts 30 Jahre lang einen Friseursalon. Er ist es gewohnt, dass seine Kund:innen zu viel von sich preisgeben und abladen. „Das Magische an der Arbeit von Friseur:innen ist die Berührung – sie durchbricht diese unsichtbare Barriere. Deshalb ist die Beziehung zwischen Friseur:in und Kund:innen so besonders“, erklärt er. „Achte einfach darauf. Wenn du das Gefühl hast, dass es deinem:deiner Hairstylist:in unangenehm ist, wie viel du von dir erzählst, frag einfach: ‚Darf ich darüber reden?‘ Es braucht nicht viel, um zu merken, dass jemand sich unwohl fühlt und das Thema wechseln möchte.“
All das soll nicht heißen, dass du keine enge Beziehung zu deinem:deiner Friseur:in haben kannst. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum du so viel abladen musst, wie du es tust, sagt Gerber. Wenn du dir Sorgen machst, dass du deinen Friseurbesuch wie eine Therapiesitzung angehst, solltest du darüber nachdenken, ob du wirklich eine Therapie brauchst.
So oder so ist es immer wichtig, dass du kurz überlegst, bevor du mit deiner neuesten Schimpftirade anfängst, wenn du dich im Friseurstuhl zurücklehnst. „Es ist ein Klischee“, sagt Vowles, „aber manche von uns reden tatsächlich gerne über Urlaub!“
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