Bevor sie mit der Arbeit beginnt, nimmt sich Allyson Fisher jeden Morgen zehn Minuten Zeit für ihre Make-up-Routine. Doch statt wie sonst anschließend 25 Minuten ins Büro zu fahren, muss die Produktentwicklerin einer großen Kaufhauskette jetzt nur noch drei Schritte zu ihrem neuen Arbeitsplatz – aka dem Esstisch – machen. Wie viele andere auch arbeitet Fisher aktuell von zuhause, um ihren Teil dazu beizutragen, die Coronakurve möglichst flach zu halten. Innerhalb der letzten Wochen hat sich extrem viel geändert. Aber Allysons Make-up-Look ist immer noch der gleiche – selbst an den Tagen, an denen ihn praktisch niemand sieht. „Ich mag Routinen am Morgen und schminken war ohnehin schon ein Teil davon also habe ich es einfach beibehalten“, erzählt sie. „Ich trage keine Foundation auf, aber ein bisschen Concealer, etwas Bronzer und auf jeden Fall Wimperntusche. Dadurch fühle ich mich bereit für den Tag.“
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Die Idee, dass sich Frauen für andere schminken – und zwar besonders für Männer – ist längst veraltet. Aber die Vorstellung, Make-up für einen selbst aufzutragen, gewinnt immer mehr an Bedeutung. Und das gilt besonders jetzt, da uns an manchen Tagen niemand zu Gesicht bekommt außer unser Spiegel. Während einer globalen Krise einen Highlighter zu zücken, kann sich natürlich erst etwas eigenartig oder sogar falsch anfühlen. Aber laut Expert*innen kann es einen riesigen Unterschied machen, wenn es darum geht, diese unberechenbaren, überwältigenden Zeiten heil zu überstehen.
„Ich rate meinen Patient*innen, am Morgen Lippenstift aufzutragen, wenn es ihnen schwerfällt, eine Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen“, sagt Dr. Samantha Boardman, eine klinische Lehrerin und Assistant Attending Psychiatrist am Weill Cornell Medical College. „Um das Arbeits- vom Wochenend-Ich zu trennen, kann es hilfreich sein, sich anders zu präsentieren.“ Außerdem gibt sogar eine Studie, die zeigt, dass Menschen, die bei Tests Make-up tragen besser abschneiden als ungeschminkte Personen. Also vielleicht bist du sogar produktiver, wenn du dir früh ein paar Minuten mehr im Bad gönnst!
Allyson Fisher kann die beiden Theorien bestätigen und sagt, ihre Morgenroutine wäre jetzt ähnlich wie an Tagen, an denen sie noch ins Büro gegangen ist. „Das hilft mir dabei, den Tag als Arbeitstag zu sehen und nicht als Wochenende – da trage ich nämlich nur sehr selten Make-up. Es sorgt für etwas Normalität in dieser sehr unnormalen Zeit. Und es ist wirklich erstaunlich, wie ein bisschen Eyeliner deine Stimmung und deine Einstellung beeinflussen kann.“
Natürlich hat nicht jede*r das Glück, von zuhause aus (oder überhaupt) arbeiten zu können. Celebrity Make-up-Artist Jamie Greenberg, die zum Beispiel Kaley Cuoco und Rashida Jones zu ihren Kundinnen zählt, ist eine der vielen Menschen, deren Berufsleben gerade komplett stillsteht. Und dennoch legt sie großen Wert auf ihre eigene Morgenroutine: Frühstück für die Kinder machen, eine Runde joggen, duschen, eine Salzlampe anschalten, Musik einschalten und dann Haare und Make-up machen. Dadurch fühlt sie sich nicht nur bereit für den Tag, es hilft ihr auch dabei, bessere Laune zu bekommen. „Mir ist aufgefallen, dass ich nicht mehr so aktiv und gleichzeitig trauriger und frustrierter war. Ich hatte auf jeden Fall ein paar Heulmomente“, sagt sie. „Aber ich glaube fest daran, dass wir in Augenblicken der Verzweiflung einen Schritt zurückmachen und lachen müssen, denn es hilft nicht, wie gelähmt dazusitzen und sich komplett herunterziehen zu lassen.“
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Meditative Make-up-Sessions
Weil Jamie nicht mehr normal arbeiten kann, hat sie den Podcast The Make Down zusammen mit der Hairstylistin Christine Synmonds gelauncht. Außerdem postet sie regelmäßig Tutorials bei Instagram. Dabei ist ihr aufgefallen, dass die Nachfrage nach Make-up-Content immer größer wird: „Ich habe so viele wundervolle Emails bekommen, in denen sich Leute bei mir bedanken und sagen, dass das genau das ist, was sie jetzt brauchen und das ich nicht aufhören soll, zu posten“, erzählt der Beauty-Profi. „Wenn du eine Katastrophe erlebst, ein echtes Trauma, dann musst du alles Tag für Tag angehen. Und du musst versuchen, jedem Tag einen Sinn zu geben. Die Zuschauer*innen und Hörer*innen bitten mich um Content und ich denke, ich kann ihnen damit helfen und das fühlt sich gut an.“
Es kann sich ein bisschen eigenartig anfühlen, sich mit dem Thema Make-up zu beschäftigen oder anderen normalen Dingen nachzugehen (wie das Bett zu machen oder zu puzzeln). Aber genau diese Sachen können uns jetzt viel besser beruhigen als zum Beispiel eine Tiger King-Folge nach der nächsten zu schauen. Der Grund dafür ist laut Dr. Boardman, dass wir uns bei diesen Tätigkeiten auf eine einzige Sache konzentrieren und kann wiederum dabei helfen, in der Gegenwart anzukommen und uns ein Gefühl der Stabilität geben. „Weil wir ständig durch klingelnde Smartphones und Nachrichten-Alerts unterbrochen werden, haben wir – besonders jetzt – immer weniger Momente des Flows in unserem Alltag“, sag Dr. Boardman. „In diesen ruhigen Momenten, in denen du deinen ganzen Fokus auf eine bestimmte Sache legst, in denen du deine Hände benutzt, steckt etwas Wunderschönes; du schenkst deine Aufmerksamkeit etwas, durch das du dich stark und gut fühlst.“
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Abgesehen von den praktischen Gründen – sprich eine productive Arbeitsumgebung zu schaffen, eine Technik zu erlernen oder eine beruhigende Aktivität zu machen – gibt es noch einen tieferen Sinn, sich früh zurechtzumachen, obwohl man das Haus gar nicht verlässt, sagt Dr. Tara Well, Associate Professor der Psychologie am Barnard College. Dr. Well konzentriert sich in ihrer Forschung und Arbeit mit Klient*innen darauf, durch die Verwendung von Spiegeln und Reflexionen eine Eigenwahrnehmung und emotionale Stabilität aufzubauen. Sie sieht die Zeit der Selbst-Isolation als Möglichkeit, sich mit dem eigenen Inneren auseinandersetzen und das Selbstbewusstsein zu steigern. Für manche, sagt sie, kann das Ritual Make-up aufzutragen, dafür der perfekte Ausgangspunkt sein.
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Blick in einen Spiegel und versuche, dir selbst in die Augen zu schauen und festzustellen: ‚Ich bin hier, ich bin entspannt, ich bin ruhig, es geht mir gut‘.
Tara Well, associate professor of Psychology at Barnard college
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„Dieser kritische Augenblick ist eine wirklich großartige Gelegenheit für die Menschen, sich selbst auf neue Art und Weise zu konfrontieren, besonders weil sie ihre Aufmerksamkeit und ihren Fokus sonst immer nach außen gerichtet haben. Statt zu überlegen, wie du einen andere Menschen siehst, kannst du dich um dich selbst kümmern“, so Dr. Well. Für den Anfang empfiehlt die Expertin, eine Übung, die sie auch mit ihren Patient*innen übt: „Blick in einen Spiegel und versuche, dir selbst in die Augen zu schauen und festzustellen: ‚Ich bin hier, ich bin entspannt, ich bin ruhig, es geht mir gut‘“. Dir ein paar Minuten Zeit zu nehmen und dir tief in die eigenen Augen zu schauen während du dein Make-up aufträgst, fühlt sich am Anfang vielleicht eigenartig an. Aber laut Jamie Greenberg, die dieses Ritual ebenfalls in ihre Routine aufgenommen hat, kann es sehr beruhigend sein. „Für mich geht das Hand in Hand mit mentaler Gesundheit“, sagt sie. „Wir sind es so gewöhnt, uns hektisch innerhalb weniger Minuten zu schminken, dass wir uns selbst gar keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Wir schauen uns nicht in die Augen. Dabei ist das die perfekte Zeit, runterzukommen und eine Verbindung mit dem Innersten aufzubauen. Wenn du Make-up auftragen als eine Art tägliche Meditation in der Selbst-Isolation siehst, kann das eine wirklich schöne Sache sein.“
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