Achtung: Dieser Artikel enthält Spoiler.
Ryan Murphys Hollywood setzt auf einen Mix aus Realität und Fantasie. Die Netflix-Serie spielt im Los Angeles der Nachkriegszeit, ist sieben Folgen lang und Geschichtsstunde und Traumvorstellung zugleich. Sie zeigt uns, wie es hätte laufen können, wenn wir uns nicht selbst im Weg gestanden und den Fortschritt verlangsamt hätten.
In dieser Welt führt Rock Hudson eine glückliche Beziehung mit einem Mann – frei von der Angst, wegen der er sich den Großteil seines Lebens versteckt hatte. In dieser Welt gewinnt eine schwarze Frau einen Oscar in der Kategorie “Best Actress“ – 56 Jahre vor Halle Berrys historischer Dankesrede. In dieser Welt wird der großartigen Schauspielerin Anna May Wong der Respekt und die Ehre zuteil, der beziehungsweise die ihr gebührt.
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„Als amerikanische Schauspielerin asiatischer Herkunft bekommst du nicht viele Möglichkeiten, jemanden wie sie zu spielen“, sagt Michelle Krusiec, die Wong in Hollywood verkörpert, in einem Telefoninterview mit Refinery29. „Die Rolle, die sie in unserer Community spielt, ist gigantisch“, sagt sie und erklärt, sie spürte nicht nur von der Community den Druck, ihr Bestes zu geben, sondern es war ihr auch ein persönliches Bedürfnis, den Charakter so gut wie möglich darzustellen.
Deswegen hat Michelle auch nicht einfach nur Anna May Wong gespielt, sie ist zu ihr geworden. In dem Moment in dem sie die Einladung zum Casting erhielt, frischte sie ihre Filmografie-Kenntnisse auf, engagierte einen Make-up-Artist, um den charakteristischen Look der Schauspielerin auf den Punkt zu treffen (inklusive maßgefertigter Perücke) und begann, zusammen mit einem Sprachcoach an Wongs Redestil und Artikulation zu arbeiten. Sie bekam den Job und trug einen wichtigen Teil zur emotionalen Ebene der Serie bei.
In der zweiten Folge von Hollywood wird Anna May, die sich aus dem Filmbusiness zurückgezogen hatte, vom Regisseur Raymond Ainsley (Darren Criss) besucht. Er will ihr die Hauptrolle in Angel of Shanghai geben, einem Film, den er bei Ace Studios pitchen möchte. Ainsley ist zur Hälfte Filipino, auf den ersten Blick sieht er aber weiß aus. Das möchte er nutzen, um Minderheiten eine Chance zu geben. Deswegen hat er auch extra für Wong ein Drehbuch geschrieben, mit dem er der Welt ihr Talent und ihre Bandbreite zeigen kann.
„Sie war eine sehr moderne Schauspielerin“, erzählt Krusiec. „Sehr natürlich, sehr veränderlich – sie war kein bisschen melodramatisch. In jeden Film, selbst in denen, in denen sie stereotypische Rollen spielte, war sie wirklich verdammt gut.“
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Als wir Wong zum ersten Mal treffen, ist sie betrunken und allein. Der institutionelle Rassismus der Filmbranche hat sie kaputt gemacht. Und wenn man sich ihre Geschichte ansieht, versteht man schnell warum.
Wong wurde 1905 in Los Angeles geboren und gilt als erster chinesisch-amerikanischer Moviestar. Ihre Eltern waren Migranten der zweiten Generation und besaßen eine Wäscherei; ihre Großeltern sind Ende des 19. Jahrhunderts von China nach Kalifornien gezogen. 1919 ging sie zu einem Casting für den Stummfilm The Red Lantern und bekam ihre erste Rolle als Komparsin. Mit 17 brach sie die Schule ab, um sich eine Karriere als Schauspielerin aufzubauen. Ihre erste Hauptrolle folgte dann 1922 – in The Toll of the Sea. Doch diese führte nicht, wie man vielleicht glauben könnte, zu neuen aufregenden Jobangeboten. Stattdessen wurde sie weiterhin vor allem für stereotypische und karikaturhafte Rollen gecastet; die Hauptrollen gingen an weiße Schauspielerinnen. Wegen eines damals bestehenden Gesetzes, das Mischehen verbot, durfte sie keine Frauen spielen, die eine romantische Beziehung zur weißen männlichen Hauptrolle führen. Und einen Filmpartner vor laufender Kamera küssen durfte sie erst recht nicht. Also verließ sie Hollywood 1928 und wanderte nach Europa aus, wo sie deutlich beliebter und respektierter war. Anfang der 30er kehrte sie dann aber wieder zurück – in der Hoffnung, die Dinge hätten sich geändert. Doch dem war nicht so.
In einem Hollywood-Flashback sehen wir eine der entsetzlichen Beleidigungen, die sie in ihrem Leben erfahren musste. In einer Szene, die auf wahren Begebenheiten basiert, spielt Wong 1937 für die Hauptrolle in The Good Earth vor, ein Film, der auf Pearl S. Bucks Roman über eine chinesische Bauernfamilie basiert, die Anfang des 20. Jahrhunderts ums Überleben kämpft. Doch obwohl sie beim Casting grandios ist, geht die Rolle an Luise Rainier, welche später einen Oscar für sie gewinnt. Es ist eine niederschmetternde Szene, die durch den Fakt, dass Situationen wie diese auch heute noch vorkommen nur noch schlimmer gemacht wird.
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„Ich habe oft meine eigenen Erfahrungen eingebracht“, sagt Krusiec. „Traurigerweise kann ich mich ziemlich gut mit dem identifizieren, was sie durchgemacht hat. Freund*innen haben mir erzählt, sie mussten Prothesen tragen, um “asiatischer“ auszusehen – und das ist weniger als zehn Jahre her.“ Krusiec erzählte uns, sie hatte das Gefühl, dass sich nur sehr wenig über die Jahre verändert und dass das sehr entmutigend für sie war. Aber sie versuchte, auch die guten Dinge zu sehen, die geschehen sind. „Es ist wirklich wunderbar, wie entschlossen und ausdauernd Anna May Wong trotz allem war – auch, wenn sie am Ende einen sehr einsamen Tod starb.“
Nach dem The Good Earth-Debakel feierte Wong zumindest ein kleines Comeback: Während des zweiten Weltkrieges spielte sie in Bombs Over Burma und Lady From Chungking mit. Ihr Gehalt spendete sie an Organisationen, die China mit wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe unterstützen. Doch Wongs Beziehung zu China blieb angeschlagen und so wurde sie beispielsweise von Reporter*innen verbal angegriffen, die ihr vorwarfen, sie würde in ihren Filmen Stereotypen zum Leben erwecken.
1951 spielte sie dann die Protagonistin in The Gallery of Madame Liu-Tsong, der ersten TV-Serie, die sich um asiatisch-amerikanische Charaktere drehte. Sie verkörperte eine Kunsthändlerin, die erst in internationale Verschwörungen hineingezogen und dann zur Detektivin wird. Doch obwohl die Show zur Primetime lief, wurde sie noch vor der zweiten Staffel abgesetzt. Alle Folgen gingen verloren.
1960 erhielt Anna May Wong endlich einen Stern auf dem Walk of Fame. Nur ein Jahr später starb sie an einem Herzinfarkt. Erst Jahre nach ihrem Tod begriffen viele, wie groß ihre Rolle wirklich war. Doch ihr Vermächtnis bleibt.
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2019 wurde Lucy Liu zur zweiten asiatisch-amerikanischen Frau, die durch einen Stern – direkt neben Wong – unsterblich gemacht wurde. In ihrer Rede huldigte sie der Frau, die fast ein Jahrhundert zuvor den Weg für sie und andere geebnet hatte. „Ich hatte das Glück, dass Vorreiter*innen wie Anna May Wong und Bruce Lee vor mir da waren“, sagte Liu. „Sollte meine Arbeit dabei geholfen haben, eine Brücke zu schlagen zwischen den stereotypischen Rollen, wie sie Anna May anfangs bekam, und dem Mainstream-Erfolg von heute, freue ich mich wahnsinnig, ein Teil dieses Prozesses gewesen sein zu können.“
In Hollywood wird Wong ein deutlich glücklicheres Ende zu teil. Ainsley gibt ihr eine Rolle in seinem (fikitiven) Film Meg und für die wird ihr in der letzten Folge der Serie ein Oscar in der Kategorie “Beste Nebendarstellerin“ verliehen. In Wirklichkeit kam es erst ein knappes Jahrzehnt später zu diesem Meilenstein: 1957 erhielt Miyoshi Umeki als erste und einzige Schauspielerin asiatischer Herkunft ebendiesen Award für ihre Rolle im Film Sayonara.
Bis heute hat keine Schauspielerin mit chinesischen Wurzeln jemals einen Oscar in der Kategorie “Beste Hauptdarstellerin“ gewonnen – oder wurde auch nur dafür nominiert.
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