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Sex Educations letzte Staffel hat weniger Sex – aber umso mehr Mut

Foto: Netflix.
Achtung: Spoiler zur vierten Staffel von Netflix’ Sex Education direkt voraus!
Nach drei kunterbunten, sexpositiven vorherigen Staffeln ist die vierte Staffel von Sex Education vielleicht die mutigste der ganzen Serie. In ihrem Mittelpunkt stehen Moordales extrem diverse Schüler:innen, allen voran der jugendliche (und selbsternannte) Sextherapeut Otis. In dieser Staffel wechseln die Teens ans „superqueere“ Cavendish College und müssen sich wieder mal mit vielen Veränderungen, Beziehungen und ihrer Sexualität auseinandersetzen.
Sex Education wird ihrem Namen treu und liefert uns mit jeder Staffel manchmal heiße, öfter aber peinliche Szenen rund um zahlreiche Sexualitäten, Identitäten und Lebenserfahrungen. Durch ihre explizite, nicht beschönigende Darstellung von Sex (und allem drumherum) ist die Serie wohl eine der einflussreichsten, die Netflix bisher produziert hat. Jedenfalls hat es Sex Education geschafft, alle möglichen, vorher als „tabu“ geltenden Themen zu entmystifizieren – von Cosplay-Sex bis hin zum Fingern während der Menstruation.
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Davon haben sich auch andere Filme und Serien etwas abgeschaut, und Sex sieht auf dem Bildschirm mittlerweile deutlich realistischer aus als noch vor ein paar Jahren. Vielleicht genau deshalb haben sich die Macher:innen von Sex Education für diese Staffel dazu entschieden, den Fokus vom Sex zu nehmen und auch Geschichten zu erzählen, die damit nichts oder nur wenig zu tun haben. In ihrem vierten und letzten Akt konzentriert sich die Show auf die sexlosen Beziehungen ihrer Charaktere – wie Familie oder Freundschaft – und zelebriert die Intimität, Erfüllung und Schönheit platonischer Beziehungen. Das Ergebnis steht in einem unerwarteten Kontrast zu all den anderen Teenie-Shows, die es derzeit zu sehen gibt. 

Teen-Drama in einer Welt nach Euphoria

Für jemanden, die so viel Zeit mit Fernsehen verbringt wie ich, fühlte sich Sex Education schon immer erfrischend anders an. Auch über ihr cleveres Drehbuch, ihre liebenswerten Charaktere und ihre spannende Handlung hinaus kann man die Serie nur loben – vor allem für ihr verantwortungsbewusstes Storytelling. Sex ist der zentrale Handlungspunkt, wird aber in jeder Folge aus anderen Perspektiven beleuchtet, und das mit viel Liebe, Rücksicht und Genauigkeit.

Teen-Sexszenen wirken meistens eher so, als wollten sie ihr jugendliches Publikum dazu aufrufen, ihre Ängste zu konfrontieren – anstatt die sozialen Umstände zu hinterfragen, die diese Ängste überhaupt erst ausgelöst haben.

In vielerlei Hinsicht war die Netflix-Hit-Serie eine Art trojanisches Pferd: Sie überzeugte ihr Publikum mit kitschigen Outfits und jeder Menge britischem Humor, und lieferte uns gleichzeitig seriöse Sexualkunde.
In der Wartezeit zwischen den einzelnen Staffeln lieferte uns die TV-Welt aber eine Vielzahl anderer Teenie-Serien, die noch weniger Angst davor haben, jugendlichen Sex darzustellen. In Euphorias zweiter Staffel, zum Beispiel, gab es endlos viel nackte Haut und raue Sexszenen, für die die Serie seitdem viel Kritik kassiert hat. Sex ist im TV inzwischen keine Seltenheit mehr, und die komplette Nacktheit in einigen Szenen der ersten Staffel Sex Education würde mich 2023 vermutlich nicht mehr so schockieren wie damals.
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Es lässt sich nicht leugnen, dass wir im letzten Jahrzehnt jede Menge radikaler Repräsentation von zuvor unterrepräsentierten Beziehungsformen und -dynamiken bekommen haben. Im Zusammenhang mit Teenie-Serien reproduzieren diese Shows aber viele derselben Probleme, die sich schon während der sexuellen Revolution der 70er beobachten ließen.
Vielleicht sollte diese Darstellung von Sex ihr Publikum ursprünglichmal dazu inspirieren, sich selbst sexuell auszuleben und Sex nicht mehr als solches Tabuthema zu empfinden. Die oft verherrlichte Inszenierung von Sex unter Jugendlichen sorgt allerdings dafür, dass diese eigentlich gut gemeinte Message dabei auf der Strecke bleibt. Teen-Sexszenen wirken meistens nämlich eher so, als wollten sie ihr jugendliches Publikum dazu aufrufen, ihre Ängste zu konfrontieren – anstatt die sozialen Umstände zu hinterfragen, die diese Ängste überhaupt erst ausgelöst haben.
Und genau dahingehend war Sex Education immer schon anders: Es stellte Sex verantwortungsvoll dar – inklusive seiner emotionalen, gesundheitlichen und peinlichen Begleiterscheinungen. Und vor allem wirkte die Serie dabei nie wie eine hyperdramatische Soap. Der Fokus war immer Realismus, nicht Romantik.

Endlich Schulschluss: Sex Educations letzter Akt

Vor dieser vierten Staffel bestimmten vorrangig Otis’ Klient:innen das Sex-Thema der jeweiligen Episode. An einer neuen Schule – mit einer konkurrierenden Sextherapeutin, O – schlägt die Handlung aber eine neue Richtung ein.
Über diese letzten acht Folgen hinweg gibt es deutlich weniger Sexszenen als noch zuvor. Die Sexszenen, die wir gezeigt bekommen, sind aber genauso revolutionär wie in vorherigen Staffeln: Die Trans-Sexszene zwischen Roman und Abbi ist schlichtweg bahnbrechend und wunderschön, und Jacksons erste Erfahrung mit Rimming, die zu einem Gespräch über sexuelles Einverständnis führt, stellt den Stereotyp des „coolen“ Sportlers weiter auf den Kopf. Und Cals erster sexueller Kontakt während der Transition ist eine herzzerreißende, ehrliche Darstellung dessen, wie schwierig es ist, als trans Person erwachsen zu werden.
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Statt weiterer Sexszenen liefert uns Sex Education in dieser Staffel jede Menge Storys rund um Freundschaft und Familie. Erst zum Ende des Finales wurde mir klar, dass die meisten Storylines der Hauptfiguren nichts mit Sex zu tun haben. Tatsächlich waren keine der Paare, denen ich über die Jahre hinweg die Daumen gedrückt habe, am Ende überhaupt zusammen.
Stattdessen verliebte ich mich ganz neu in Erics und Otis’ Freundschaft, von der ich heute weiß, dass sie eigentlich immer die wahre Lovestory der Serie war. Die Dynamik der beiden stellt Freundschaften zwischen jugendlichen Jungs in einem völlig neuen Licht dar.
Die letzte Episode setzt auf ein Klischee des Genres: einen Schulball. In der Welt des Teenie-TV bedeutet das meistens das erste Mal Sex. Ich ging deswegen sogar naiv von einer Otis-Maeve-Reunion aus – aber genau mit dieser Erwartung spielte die Serie: Nachdem Eric und Otis über mehrere Staffeln hinweg immer wieder On-Off-Beziehungen mit anderen Charakteren hatten, sind es am Ende diese beiden, die miteinander tanzen und die Nacht verbringen (mit Smash Bros. auf der Nintendo Switch). Obwohl Otis und Eric im Laufe der Show mehrere eigenen romantische Storylines hatten, erinnert uns Sex Education im großen Finale daran, dass im Zentrum der Serie immer noch die platonische Seelenverwandtschaft zwischen diesen beiden steht.

Obwohl es natürlich dringend nötig ist, jugendliche Sexualität auch auf dem Bildschirm zu zeigen, ist es genauso wichtig, auch zwischenmenschliche Dynamiken außerhalb von Sex darzustellen.

Tatsächlich geht es in der letzten Staffel von Sex Education nämlich nicht – wie viele, inklusive mir, erwartet hatten – um die Lovestory zwischen Otis und Maeve. Während sich Otis’ Story in dieser Staffel viel um seine Freundschaft zu Eric dreht, geht es bei Maeve insbesondere um ihre Familie und um die komplexe Trauer nach einem Tod eines drogensüchtigen Elternteils. Und auch Aimee ist in Staffel 4 vor allem mit der Beziehung zu sich selbst beschäftigt.
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Sex Education hat sich viel Zeit damit gelassen, Aimees Gefühle nach einem sexuellen Missbrauch zu beleuchten, ohne diese Erfahrung jemals ihren Charakter bestimmen zu lassen. Im Serienfinale überwindet Aimee schließlich ihre Angst vor körperlicher Intimität und küsst ihren Crush. Wie auch bei Maeve war es nicht Aimees romantische Beziehung, die dieses persönliche Wachstum vorangetrieben hat – sondern ihre Beziehung zu sich selbst.
Indem Sex Education die Vielzahl der Beziehungsformen und -dynamiken im Teenie-Alter repräsentiert, liefert uns die Serie eine völlig neue Darstellung von Sex und Identität. Und in einem TV-Zeitalter, in dem sich die Schauspieler:innen aus Teen-Dramen selbst für weniger sexuelle Nacktheit vor der Kamera einsetzen müssen, ist das ziemlich radikal.

Die platonische Revolution

Vielleicht ernten die letzten Episoden von Sex Education nicht genauso viel Lob wie vorherige Staffeln. Weil einige der Darsteller:innen abgesprungen sind, die Handlung an einer neuen Schule spielt und wir zwei Jahre auf diese Staffel warten mussten, ist das aber kaum überraschend – und Sex Education Staffel 4 ist immer noch besser als die meisten Teenie-Serien.
Die Show schafft es weiterhin, das Leben von Jugendlichen auf neue, und vor allem realistische, Art darzustellen. Der fehlende Sex spiegelt die Realität des Teenager-Daseins wider; immerhin geht die sexuelle Aktivität unter Jugendlichen seit einem Jahrzehnt stetig bergab. Und obwohl es natürlich dringend nötig ist, jugendliche Sexualität auch auf dem Bildschirm zu zeigen, ist es genauso wichtig, auch zwischenmenschliche Dynamiken außerhalb von Sex darzustellen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass unser stärkerer Fokus auf romantische (anstatt auf platonische) Beziehungen eine Konsequenz des Patriarchats ist. Wir betrachten romantische Partnerschaften als wichtiger, weil es Männern erlaubte, Frauen von ihrer Community zu isolieren. Sex Education nutzte seine Chance, um gegen diese Tradition anzukämpfen, und setzte die Macht platonischer Bindungen in den Leben seiner Charaktere mit der romantischer Beziehungen gleich.
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Diese letzte Staffel ist ein Aufruf dazu, diese Form des radikalen Storytellings fortzusetzen und Geschichten über diverse Figuren und die oft übersehenen Erfahrungen rund um persönliche Identität, Freundschaften und Familie zu erzählen. Und weil Film & Fernsehen weiterhin unheimlich mächtig sind, kann es für uns geradezu revolutionär sein, die Bedeutung der platonischen Beziehungen in unserem Leben vor Augen gehalten zu bekommen. Denn davon profitieren wir nicht nur persönlich, sondern auch als Gesellschaft.
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