Achtung: Spoiler für Staffel 1 von Netflix’ Die Gehörlosen-Uni direkt voraus!
Die neue Doku-Serie Die Gehörlosen-Uni ist seit Anfang des Monats auf Netflix und gewährt uns einen ehrlichen Einblick in die Leben tauber Studierenden an der privaten Gehörlosen-Universität Gallaudet. Die Reality-Show wirft dabei eine interessante Frage auf: Was bedeutet eigentlich Zugehörigkeit, wenn es für alle so leicht ist, sich „anders“ zu fühlen?
Vor allem in der zweiten Episode stellt sich diese Frage besonders deutlich. Eine Gruppe junger Frauen sitzt zusammen in einem Wohnheim und sieht sich ein YouTube-Video ihrer Kommilitonin Cheyenna an, die darin Modetipps gibt. Wie andere Influencer*innen wird dabei auch sie kontrovers diskutiert – aber nicht wegen ihres Geschmacks oder Aussehens. Im Fall von Cheyenna und ihrer „Hater“ in diesem Zimmer ist diese Kontroverse eine ganz persönliche Angelegenheit: Sie alle sind taub, doch geht Cheyenna mit ihrer Gehörlosigkeit anders um als ihre Kommilitoninnen.
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Aber gibt es tatsächlich eine „richtige“ Art, mit Taubheit umzugehen? Die Studentinnen in diesem Zimmer meinen: Ja. Sie kritisieren Cheyenna dafür, dass sie in ihrem Video nicht bloß per Zeichensprache zur Kamera spricht, sondern gleichzeitig mit ihren Lippen die englischen Worte formt. Diese Uneinigkeit wirft die Frage auf, die sich durch den Rest der Staffel zieht: Wer ist „taub genug“, um an der Gallaudet reinzupassen – und wer bleibt außen vor?
Die unterschiedlichen Erfahrungen der gehörlosen Studierenden zeigen, dass Gallaudet eben nicht nur eine Uni ist – sondern ein Lifestyle voller Drama, Trauma und individueller Herausforderungen. Schnell wird klar: Einige Studierende fühlen sich in dieser Community willkommen, andere wiederum nicht. Eine Studentin der tauben „Elite“, Tessa, warnt Cheyenna sogar vor den möglichen Konsequenzen davon, es Hörenden Recht machen zu wollen: „Die taube Community ist klein. Jemand, den wir einmal ausgestoßen haben, kann nirgendwo mehr hin.“
Vor allem, wenn man nicht zur sogenannten „Elite“ zählt, der ein kleiner Teil des Casts angehört. Auf dem kleinen Campus mit rund 1000 Studierenden betrachtet sich diese Elite als die Prominenz, weil sich – laut den Elite-Studentinnen Tessa und Alexa – ihre Taubheit in ihren Familien um vier bis fünf Generationen zurückverfolgen lässt. (Das National Institute on Deafness and Other Communication Disorders bestätigt zwar, dass eine solche genetische Vererbung plausibel, aber auch sehr selten ist. Tatsächlich haben rund 90 Prozent aller Gehörlosen hörende Eltern.) Laut Cheyenna kennen sich viele dieser Studierenden daher schon lange vor ihrem Studium. Sobald sie dann an der Gallaudet anfangen, benehmen sie sich, als würde ihnen der Campus gehören. Dabei betrachtet die Gallaudet-Elite ihre Kultur und ihre Zeichensprache als Heiligtümer – und verteidigt sie selbst gegen ihre Kommiliton*innen, die diese nicht im gleichen Ausmaß respektieren.
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Die Gehörlosen-Uni lehrt uns: Taubsein (oder auch nur dessen Definition) ist schwierig.
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Alle acht der dramatischen Episoden finden im Laufe eines einzelnen Semesters statt. Dabei fühlen sich die Interaktionen gelegentlich sehr inszeniert und sogar choreographiert an; die Studierenden teilen aber auch ihre echten, tiefgründigen Traumata mit der Kamera. In den ersten beiden Folgen sind viele von ihnen dabei noch sehr nervös. Im Laufe der Serie spricht Alexa dann aber doch mit ihren Eltern über ihre Abtreibung; Renate erzählt von ihrer gewalttätigen Familiengeschichte und ihren Wutanfällen. DQ (die Kurzform von Daequan) verarbeitet die Trauer über den Tod seiner Mutter und den Druck, seine Familie versorgen zu müssen. Beinahe jede*r Studierende gewährt uns tiefe Einblicke in ihre ganz persönlichen Kämpfe und den damit verbundenen Mut.
Die Gehörlosen-Uni entmystifiziert eine häufig missverstandene Community. Jede der 20-minütigen Folgen widmet sich rund einem Dutzend Studierenden und zeigt sie uns beim Lästern, Lernen und Flirten. Langweilig wird das nie, hat doch jede*r von ihnen eine ganz eigene Geschichte: Dalton legt sein Hörgerät ab, um seine Gehörlosigkeit und das damit einhergehende Leben für sich zu akzeptieren; sein Kumpel Rodney hingegen will auf sein Cochlear-Implantat nicht verzichten, weil er sonst „überhaupt nichts hört“. Renate zelebriert ihre Bisexualität, indem sie bei Poetry Slams mittels Zeichensprache Gedichte vorträgt. DQ und Rodney haben ihre weißen Nachbar*innen satt, die sie anstarren, als hätten sie noch nie zwei Schwarze Männer gesehen, die sich in Zeichensprache unterhalten. In jeder anderen Serie hätten uns diese zahlreichen Handlungen vielleicht verwirrt oder es womöglich gar nicht erst in ein solches Format geschafft. Und natürlich kann es chaotisch wirken, als Zuschauer*in mit so vielen Studierenden und ihren unterschiedlichen Leben bombardiert zu werden. Aber diese Verwirrung ist wichtig – zeigt sie doch, dass taube Menschen und ihre Erfahrungen individueller kaum sein könnten. An der Gallaudet vermischen sich diese zahlreichen Perspektiven; manchmal kollidieren sie auch.
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Die Gehörlosen-Uni lehrt uns: Taubsein (oder auch nur dessen Definition) ist schwierig. Die Macher*innen der Serie, Eric Evangelista, Shannon Evangelista, Brandon Panaligan und der Gehörlosen-Aktivist Nyle DiMarco (der selbst taub ist und an der Gallaudet studierte) wollen genau dieses Chaos als Teil der Gallaudet-Geschichte hervorheben, indem sie diese diversen Identitäten in einer Serie miteinander verweben – als Tribut an jene echten Studierenden, die versuchen, sich in der tauben Welt, der hörenden Welt oder irgendwo dazwischen zurechtzufinden.
Diese Moral betont auch das Wortspiel des englischen Titels, das leider in der deutschen Übersetzung verloren geht. Deaf U ist natürlich einerseits eine Anspielung auf den Spitznamen der Gallaudet-Universität, die weltweit als führendes College für taube („deaf“) Studierende gilt. Dabei kratzt der Titel aber gleichzeitig an der sehr schmalen Definition von Gehörlosigkeit der Campus-Elite, indem er den Cast ermutigt, ihre Geschichten in ihrer persönlich gewählten Form zu erzählen – ob nun mittels Gesten, Zeichensprache, mündlich oder anderer Formen der Kommunikation. Der Titel bedeutet daher weniger „Deaf U(ni)“ als „Deaf You“ – deine Art der Taubheit. Die Message an Taube und Schwerhörige ist ganz klar: Lasst euch von niemandem sagen, ihr würdet nicht dazugehören.
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All diese unterschiedlichen Erfahrungen werden in Die Gehörlosen-Uni präsentiert, ohne sie zu verurteilen. Die Serie zeigt: Die „richtige Art“, taub zu sein, gibt es gar nicht.
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Natürlich ist Die Gehörlosen-Uni nicht die einzige Serie, in denen Menschen mit Be_hinderungen eine Rolle spielen – auch in beliebten Shows wie The Good Doctor und Stranger Things ist diese Art der Repräsentation glücklicherweise angekommen. Was Die Gehörlosen-Uni allerdings einzigartig macht, ist die Kombination aus akustischen und visuellen Eindrücken, durch die sowohl taube als auch hörende Zuschauer*innen erreicht werden. Das fängt schon bei der farbenfrohen, hochauflösenden Titelsequenz an, die mittels Zeichensprache „Deaf U“ buchstabiert. Zusätzlich liegt der Kamerafokus immer sowohl auf den Gesichtern als auch den Händen der interviewten Studierenden, um gehörlosen Zuschauer*innen das problemlose Lesen von Lippen- oder Handbewegungen zu ermöglichen. Abgesehen davon gibt es aber auch Untertitel und musikalische Untermalung für jene, die während der Serie auch etwas hören können und möchten.
Diese Design-Entscheidungen hinter der Show stehen wiederum sinnbildlich dafür, wie nah beieinander die hörenden und tauben Welten eigentlich liegen – sowohl in als auch außerhalb der Serie. Diese Nähe ist dabei vor allem eine ganz persönliche Entscheidung. Einige Gallaudet-Studierende tragen Hörgeräte und haben hörende Freund*innen, während ihre Kommiliton*innen die hörende Welt weitestgehend meiden. All diese unterschiedlichen Erfahrungen werden in Die Gehörlosen-Uni präsentiert, ohne sie zu verurteilen. Die Serie zeigt: Die „richtige Art“, taub zu sein, gibt es gar nicht.
Nach acht Folgen endet die erste Staffel. Finden die Studierenden bis dahin die Zugehörigkeit, nach der sie sich sehnen? Nicht wirklich. Das vorläufige Ende von Die Gehörlosen-Uni lässt einige rote Fäden in der Luft hängen. Alexa kehrt zu ihrem Exfreund zurück, ist sich jedoch bezüglich ihrer gemeinsamen Zukunft unsicher. Cheyenna überlegt, in die hörende Welt zurückzukehren. Niemand aus dem Cast bekommt ein Happy End; doch sind es genau diese offenen Enden, um die es den Serien-Macher*innen geht. Manche Zuschauer*innen dürften das Staffelfinale sicher als unbefriedigend empfinden, doch ist nach der letzten Szene, in der Alexa in die Nacht hineinfährt, für Staffel 2 alles offen. Und darum geht es doch: Die Zukunft ist, was wir daraus machen – egal, ob wir hören können oder nicht. Dieses zaghafte Gefühl der Hoffnung ist ein passendes Ende für eine Serie, die so vieles anders macht.
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