Ein Leben mit Be_hinderung ist ein Leben voller Vorurteile: Vorurteile von Fremden, die sich eine Meinung zu deinen Fähigkeiten, deiner Intelligenz, oder, noch schlimmer, deiner Lebensqualität erlauben, bevor sie dich überhaupt kennengelernt haben; Vorurteile von Mediziner:innen, die meinen, deine Krank- oder Gesundheit sowie deine Be_hinderung genau einschätzen zu können, obwohl sie dich nie behandelt haben. Wenn du eine chronische Krankheit hast, deine Be_hinderung nicht äußerlich sichtbar ist oder du dich nur gelegentlich auf einen Rollstuhl verlassen musst, kommen dazu noch jede Menge Zweifel anderer Leute, ob du denn auch wirklich be_hindert bist. Diese Vorurteile bestimmen nicht nur den Alltag be_hinderter Menschen, sondern auch, wie sie von nicht-be_hinderten Menschen betrachtet werden. Und obwohl sich die meisten Leute alle Mühe geben, diesen Kreislauf des verinnerlichten Ableismus zu durchbrechen, fällt es uns allen leider oft viel zu leicht, anhand dieser Vorurteile zu glauben, wir wüssten genau, wie das Leben be_hinderter Menschen aussieht. Dabei verlassen wir uns vor allem auf die (fiktiven) Bilder be_hinderter Menschen, die uns Film, Fernsehen, Literatur und Co. präsentieren.
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Und genau das bringt mich zu Kaz Brekker, dem Antihelden aus Leigh Bardugos „Das Lied der Krähen“-Buchdilogie und einem der Hauptcharaktere in Netflix’ neuer Serie Shadow and Bone, an der Bardugo als Executive Producer mitarbeitet.
Ich persönlich lernte Kaz während des Lockdowns kennen und verliebte mich komplett. Der clevere, bittere, wütende, rachsüchtige, talentierte, komplexe Teenager mit Gehstock war eine Form der Be_hinderten-Repräsentation, die ich so noch nicht gesehen hatte. Sein Gehstock unterstrich seine Arroganz und sein Selbstbewusstsein, anstatt ihnen zu widersprechen, und seine Fähigkeit, es zu seinen Gunsten auszunutzen, dass ihn andere immer wieder unterschätzten, war echt inspirierend. Dabei ist seine Geschichte eine völlig andere als der typische „inspiration porn“, der uns in den Medien so oft begegnet, wenn es um Be_hinderung geht. Diese Geschichten – sowohl aus dem realen Leben als auch in der Fiktion – drehen sich oft um Menschen, die Be_hinderungen „überwinden“, oder um be_hinderte Menschen, die nicht-be_hinderte Menschen daran erinnern, dass deren Leben ja „gar nicht so schlimm“ sei. Kaz hingegen war einer der seltenen Charaktere, die ihre Be_hinderung und die damit einhergehenden Schmerzen als Teil der eigenen Persönlichkeit akzeptierten – nicht als etwas, das zum Beispiel durch die Magie der Fantasy-Welt, in der Das Lied der Krähen spielt, „geheilt“ werden müsse.
Kaz Brekker stammt übrigens ursprünglich aus einer (unveröffentlichten) Kurzgeschichte, in der er nur als „Dirtyhands“ bekannt war – ein ansonsten namenloser Händler, den sich Autorin Bardugo ausgedacht hatte, um einen anderen kulturellen Archetypen zu erforschen. „Die Idee dahinter war, einen Charakter von Dorf zu Dorf ziehen und die Arbeit verrichten zu lassen, die sonst niemand machen wollte. Dieses Konzept, sich die Hände mit von anderen ungewollter Arbeit ‚dreckig‘ zu machen, ist tief in der jüdischen Geschichte verwurzelt – ich bin ebenfalls Jüdin“, erzählte Bardugo gegenüber Refinery29 vor dem Release von Shadow & Bone.
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Erst später, als sie an Das Lied der Krähen schrieb, nahm Dirtyhands weitere Facetten ihrer eigenen Identität an. Sie sah Kaz als perfekten Charakter für ihre klassische Raubüberfall-Story: eine Art antiheldenhafter Sherlock-Holmes in den schmuddeligen, verbrecherischen Straßen Ketterdams. Kaz’ Arroganz und Macht, Gehstock immer in der Hand, hatte sich Bardugo für sich selbst immer gewünscht, begriff sie. Ihre degenerative Knochenkrankheit zwang sie nämlich selbst zum Gehen am Stock. Dass sie sich selbst via Kaz in die Geschichte geschrieben hatte, bemerkte sie aber erst, als sie das Ganze am Ende erneut durchlas. „Ich schätze, ich wollte selbst Teil des Buchs sein, und ganz ehrlich: Kaz’ Selbstbewusstsein hat mir schon durch viele Tage geholfen, an denen ich mich selbst unsicher gefühlt oder mich von meinem verinnerlichten Ableismus überwältigen lassen habe.“
Mit Kaz traf sie auch in ihrem Publikum einen Nerv: Das Konzept eines jungen, brillanten Kriminellen mit Gehstock schien viele Leser:innen anzusprechen. Andere wiederum waren erstmal verwirrt. Bardugo bekam von einigen Fans zu hören, sie hätten sich Kaz als alten Mann vorgestellt, ohne genau sagen zu können, warum. „Ich weiß, warum!“, antwortete Bardugo dann immer. „Das liegt daran, dass du in den Medien noch nie jemanden mit Gehhilfe gesehen hast, der oder die nicht schon uralt war. Das ist mir total bewusst, weil ich genau dieselbe Denkblockade hatte. Das merkte ich aber erst, als ich selbst die Gehhilfe brauchte.“
Die Einsicht, dass wir unsere verinnerlichte automatische Diskriminierung be_hinderter Menschen oft gar nicht erkennen bzw. selbst dazu beitragen, ist auch wichtig dafür, wie wir über die Darstellung von Be_hinderungen in den Medien sprechen. Kaz Brekker spielt eine wichtige Rolle in Netflix’ Shadow and Bone, und das Internet diskutiert schon seit Monaten über seinen Darsteller, Freddy Carter. Wenn du es mal an den ganzen schwärmenden Posts und Fancams vorbeigeschafft hast, wirst du zwangsläufig auf Beiträge stoßen, in denen sich Fans enttäuscht und kritisch dazu äußern, dass der Schauspieler offenbar keinerlei körperliche Be_hinderungen hat. Mich persönlich, als be_hinderte Gelegenheits-Gehhilfe-Nutzerin, hat Carters Performance beeindruckt: Er spielt Kaz nicht nur cool, komplex und sehr gefasst, sondern bringt die Erfahrung eines Lebens mit chronischem Schmerz auch sehr glaubhaft rüber. Kaz’ körperliche Erschöpfung, seine Traumata, seine Abhängigkeit vom Gehstock – Carter drückt all das subtil, aber eindrucksvoll mit kleinen Gesten aus.
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Ich war demnach überrascht, als ich erfuhr, dass Carter selbst gar keine Be_hinderung zu haben scheint – und das in derselben Serie, die so viel Mühe darin investiert hat, ihre Rollen divers und inklusiv zu besetzen und die einzelnen Geschichten respektvoll und authentisch zu erzählen. Allerdings sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass Kaz’ Gehprobleme in der Buchreihe nicht seine einzige Be_hinderung bzw. Neurodivergenz sind.
Als ich Bardugo – die laut The Daily Express die Besetzung einiger Charaktere final mitbestimmen durfte – beim Interview auf Carters Casting ansprach, wollte sie zuerst eins klarstellen. „Wenn jemand unter meinen Leser:innen [durch die Besetzung von Freddy Carter als Kaz Brekker] leidet, möchte ich mich darüber überhaupt nicht hinwegsetzen“, sagt sie. „Aber ich will trotzdem betonen, dass wir es ja nie genau wissen [, ob und inwiefern jemand wirklich eine Be_hinderung hat] – genauso wenig, wie wir wissen, ob jemand queer ist, bevor er oder sie sich geoutet hat. Wir können auf den ersten Blick nie ahnen, ob jemand unter chronischen Schmerzen oder einer anderen Form der Be_hinderung leidet. Und ich finde es auch nicht angebracht, darüber überhaupt zu diskutieren; das wäre meiner Meinung nach unfair und ein Eindringen in die Privatsphäre.“
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„Als jemand, die schon dazu aufgefordert wurde, ihre eigene Be_hinderung und ihr Trauma zur Schau zu stellen, um ihr literarisches Werk zu rechtfertigen, ist es mir wichtig, den hier involvierten Schauspieler:innen und Drehbuchautor:innen den nötigen Respekt entgegenzubringen“
Autorin Leigh Bardugo
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Diesen Punkt würden wohl die meisten Menschen mit Be_hinderungen direkt unterschreiben. Wenn wir eindeutig be_hindert „aussehen“, werden wir oft als „anders“ empfunden und ausgeschlossen; wenn wir hingegen eine nicht sichtbare Be_hinderung haben oder uns chronische Schmerzen plagen, wird beides immer wieder infrage gestellt und uns vorgeworfen, wir würden ja nur so tun. Wir sind quasi immer dazu gezwungen, unsere eigene Be_hinderung zu „performen“, damit man uns glaubt und uns ein „Recht“ auf das Label zuspricht – oder, noch schlimmer, um nicht-be_hinderte Menschen zu „bilden“. Diese Erfahrung teilt auch Bardugo, die zum Beispiel einmal von einem besonders aufdringlichen Journalisten dazu ausgefragt wurde, wie wahrscheinlich es denn sei, dass sie irgendwann im Rollstuhl sitzen würde.
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„Als jemand, die schon dazu aufgefordert wurde, ihre eigene Be_hinderung und ihr Trauma zur Schau zu stellen, um ihr literarisches Werk zu rechtfertigen – sei das nun die Darstellung von Trauma in Das neunte Haus oder von Be_hinderung in Das Lied der Krähen –, ist es mir wichtig, den hier involvierten Schauspieler:innen und Drehbuchautor:innen den nötigen Respekt entgegenzubringen“, erklärte sie. „Was ich aber sagen kann: Wir haben das Thema [von Kaz’ authentischer Darstellung] sehr ernst genommen, und am Drehbuch-Tisch sitzen auch nicht nur heterosexuelle, weiße, nicht-be_hinderte Autor:innen.“
Obwohl Bardugo eindeutig die Richtung sehr gefällt, die der Showrunner von Shadow & Bone, Eric Heisserer, mit der Serie eingeschlagen hat, kann sie die Diskussion rundherum gut nachvollziehen. „Dieser ganzen Debatte liegt letztlich die Liebe für die Charaktere zugrunde, genauso wie der Wunsch der Zuschauer:innen und Leser:innen, sich selbst auf dem Bildschirm wiederzufinden. Und das erleben wir ja so selten. Natürlich ist das ein emotionales Thema.“ Genau deswegen war die Autorin auch sehr darum bemüht, Carter bestmöglich auf seine Rolle vorzubereiten. „Wir haben viel über das Körperliche seiner Rolle gesprochen – nicht nur über den Gehstock, das Humpeln und die chronischen Schmerzen, sondern auch über die Berührungsängste und die posttraumatische Belastungsstörung.“
Es ist verständlich, dass einige Fans davon frustriert sind, einen Schauspieler ohne Gehbe_hinderung in der Rolle des Kaz zu sehen. Trotzdem ist Bardugos Argument richtig und wichtig: Es ist gefährlich, nur anhand fehlender sichtbarer Be_hinderungen automatisch davon auszugehen, jemand sei kerngesund. Leider ist aber genau das heutzutage völlig normal, und dazu werden wir sogar gesellschaftlich ermutigt, nicht-be_hinderte Menschen als die „Norm“ zu betrachten. Das ist enorm ableistisch.
Gleichzeitig ist Leigh Bardugo aber eben auch eindeutig davon überzeugt, dass Carter die richtige Wahl für Kaz ist, weil er eine tiefe Verbindung zu der Rolle hat. Und dieser Entscheidung sollten wir vertrauen; dafür sollte Bardugo nicht über die private Lebenserfahrung anderer Leute (in diesem Falle der von Carter) sprechen müssen – oder diese gar dazu zwingen, Inneres nach außen hin zu präsentieren, nur um sich eine Rolle „verdienen“ zu können.
Shadow and Bone ist auf Netflix zum Streamen verfügbar.