An einem sonnigen Nachmittag im Lockdown-Frühling 2020 stand ich auf dem Bürgersteig gegenüber vom Krankenhaus und winkte Ben zu – meinem Verlobten, der mir in seinem Krankenhaushemd im sechsten Stock am Fenster zurückwinkte. Er hatte gerade eine große Operation hinter sich, bei der einige der bösartigen Tumore in seinem linken Lungenflügel entfernt worden waren.
Wir hielten uns an die Corona-Regeln – die Anweisung, zu Hause zu bleiben und nur maximal eine Person aus einem anderen Haushalt zu treffen. Das hieß, dass ich viele Freund:innen und Verwandte während dieser Zeit monatelang nicht sah. Und die Regeln bedeuteten auch, dass ich nicht an Bens Seite sein konnte, als er starb.
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Während ich das schreibe, kochen die Erinnerungen an die letzten acht Monate seines Lebens immer stärker hoch. Ich spüre, wie sich meine Angst wie eine Boa Constrictor um meinen Hals wickelt und mir die Luft abzuschnüren droht. Das Trauma, das diese Erfahrungen in mir hinterlassen haben, lässt mich bis heute erzittern.
Ich ahnte es damals noch nicht, aber der 26. März 2020 – nur vier Tage, nachdem in Deutschland der erste Lockdown in Kraft trat, und nur einen Tag nach Bens 36. Geburtstag – sollte der Anfang vom Ende sein. Wir hatten uns ein Auto gemietet, um für einen (vermeintlichen) Routine-Check-up ins Krankenhaus zu fahren. Anstatt eines weiteren „Sieht alles gut aus!“ bekamen wir von Bens Onkologin allerdings die Worte zu hören, die ich gehofft hatte, nie hören zu müssen. Sein Weichgewebesarkom war zurück – diesmal mit Metastasen in der Lunge. Der Krebs war im vierten Stadium, und unheilbar.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen versank meine ganze Welt im Dunkeln. Ben war urplötzlich vom topfitten Krebs-Überlebenden – der sich gerade sein erstes Haus gekauft hatte, seine Karriere in einer Musikagentur vorantrieb und seine Hochzeit auf Ibiza plante – zum hochgefährdeten Krebspatienten im Endstadium geworden, der womöglich kurz vor seinem Tod stand.
Im Laufe der nächsten acht Monate wurde Bens Sicherheit unsere oberste Priorität, und als seine direkte Bezugsperson und Pflegekraft zog ich mich mit ihm in die Selbstisolation zurück. Wir schotteten uns in unserer Wohnung ab und desinfizierten jedes Paket und jedes Supermarktprodukt, das wir in unsere vier Wände holten, weil wir damals noch nicht wussten, dass COVID-19 über die Luft übertragen wird. Nachdem der erste Lockdown im Mai gelockert wurde, trauten wir uns ganz selten an die frische Luft, um Freund:innen und Familienmitglieder im Park oder vor der Haustür zu sehen, immer aus sicherer Entfernung.
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Im Sommer 2020 verbrachte Ben über 30 Tage im Krankenhaus, die er allesamt alleine aussitzen musste. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Scans, Ergebnistermine, Chemo-Behandlungen und Notfall-Einweisungen er allein über sich ergingen ließ. Obwohl ich mit ihm zusammen selbstisoliert gelebt hatte und demnach kein Risiko war, durfte ich nicht bei ihm sein. Wir hielten uns also weiter an die Regeln, um andere zu schützen – um „das Richtige“ zu tun.
Die Angst in seinen Augen, wenn wir uns zum wiederholten Mal frühmorgens in der Notaufnahme voneinander verabschieden mussten oder er mich vor seinen Behandlungen an der Eingangstür zum Krebszentrum zurückließ, hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt.
Ich hätte bei ihm sein sollen – in der Notaufnahme, im Krebszentrum. Um mich für ihn einzusetzen, um ihn zu trösten, um ihm Essen zu holen und seine Füße zu massieren.
Ich hätte da sein sollen, als er an der Beatmungsmaschine auf der Intensivstation mit Corona um sein Leben kämpfte. Um mit ihm zu sprechen, seine Hand zu halten, seinen Körper zu waschen, ihm seine Lieblingsmusik vorzuspielen.
Ich hätte an seiner Seite sein sollen, als er am 14. November 2020 durch die Komplikationen von Corona und Krebs an multiplem Organversagen starb, kurz nachdem sich die Welt in einen weiteren Lockdown verabschiedet hatte.
Ich hätte ihn mit meinen nackten Händen zum letzten Mal berühren sollen dürfen, noch bevor er gestorben war. Nicht versteckt hinter Handschuhen, einer Schutzbrille, einer Maske, einem Haarnetz, einem Schutzanzug und Plastikfolie.
Die Monate nach seinem Tod waren aber sogar noch schlimmer. Die Rituale und Abläufe rund um den Tod, die der verstorbenen Person und deren Liebsten ein wenig Würde gewähren, waren wegen Corona nicht erlaubt. Wir durften uns nicht versammeln, einander umarmen und trösten. Stattdessen verbrachte ich weitere vier Monate allein mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, die wegen ihres Alters ebenfalls als gefährdet galten.
Das sind die Opfer, die ich erbrachte – die Millionen von uns erbrachten. Freiwillig, um die Regeln einzuhalten, dem Gesetz zu folgen und andere zu schützen. Uns entging dadurch so viel Zeit, so viele wichtige Minuten und Stunden mit unseren Liebsten, die wir nie zurückbekommen.
Heute bin ich eine 31-jährige Witwe. Die zwölf Monate von März 2020 bis März 2021 waren die schmerzhaftesten, traumatischsten und unmenschlichsten Monate meines Lebens. Ich werde mich immer fragen, ob ohne die Pandemie alles anders für Ben gelaufen wäre. Es gibt zahllose andere Patient:innen, Familien und Angehörigen, die ähnliche, furchtbare Geschichten zu erzählen haben. Ich bin im Herzen bei jedem oder jeden Einzelnen von ihnen.
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