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Nein, meine trans Identität ist keine psychische Krankheit

Foto: Nicolas Bloise.
Am 25. Mai 2019 verkündete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine wichtige Veränderung in ihrem globalen Handbuch medizinischer Diagnosen: Eine transgender Identität würde jetzt nicht mehr als geistige Störung gelten – 46 Jahre nach der Homosexualität. Ein WHO-Experte sagte dazu, das sei die offizielle Anerkennung dessen, dass eine trans Identität „keine geistige Erkrankung“ sei. 
Seitdem sind drei Jahre vergangen, und die „Befreiung“ von trans Menschen, die diese Anerkennung angeblich versprochen hatte, ist bis heute ausgeblieben. Die WHO hatte die „Gender-Identitätsstörung“ in ihrem diagnostischen Handbuch aus dem Kapitel zu geistigen Störungen entfernt und uns jetzt im Kapitel zu sexueller Gesundheit als „gender incongruent“ (z. Dt.: „gender-nichtübereinstimmend“) neu eingestuft. Damals hofften Menschenrechtsorganisationen darauf, dass diese Einstufung Regierungen in aller Welt dazu bringen würde, gender-bestätigende medizinische Versorgung und die gesetzliche Anerkennung des eigenen Genders für trans Personen nicht erst nach einer medizinischen Diagnose zu erlauben. 
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Dabei müssen sich trans Menschen in Dutzenden Ländern – allein neun davon in Europa und Asien, laut der aktuellsten Trans Rights Europe Map – einer Sterilisierung unterziehen, um gesetzlich anerkannt zu werden. Wer in Deutschland einen anderen Vornamen und ein anderes Geschlecht auf dem Ausweis stehen haben möchte, muss dazu einen Antrag beim Amtsgericht stellen. Daraufhin stellen zwei Gutachter:innen zahlreiche Fragen, um herauszufinden, ob der:die Antragsteller:in wirklich trans ist, bevor ein:e Richter:in dem Antrag schließlich zustimmt oder ihn ablehnt. Wer sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen möchte, muss noch weitere Hürden überwinden: Das aktuelle Transsexuellengesetz verlangt nämlich eine mindestens 18-monatige psychologische Betreuung und einen Alltagstest, um zu überprüfen, ob die Operation wirklich empfehlenswert ist. Noch dazu werden zwei „fachpsychiatrische/psychologische Gutachten zur Diagnose Transsexualität“ verlangt. Dasselbe gilt für eine Hormontherapie.
All das sorgt dafür, dass der Prozess der Transition immer mehr als medizinisches Thema behandelt wird. In anderen Worten: Trans Personen werden weiterhin als „krank“ dargestellt – und das ist paradox. Denn obwohl eine trans Identität keine psychische Krankheit ist, sorgt der gesellschaftliche Umgang mit trans Personen oft dafür, dass deren Psyche leidet.
Die Frage ist doch: Wenn trans Menschen laut WHO eben nicht geistig krank sind, wieso brauchen wir dann einen psychologischen Bericht, um Zugang zu medizinischer Versorgung wie einer Hormontherapie zu bekommen? 
Der Mythos, eine trans Identität sei eine psychische Krankheit, beschränkt sich außerdem leider nicht „nur“ auf transbezogene Rechtsfragen und Medizin. Im Mai gab Lia Thomas – die erste offen trans Schwimmerin, die einen US-College-Meisterschaften-Titel gewann – ein Interview, in dem sie beschrieb, wie glücklich sie nach ihrer Transition sei. Einige Wochen darauf sagte eines ihrer Teammitglieder, man könne beim Ansehen des Interviews „erkennen“, dass Thomas „psychisch krank“ sei. 
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Thomas’ Erfahrung spiegelt die von so vielen anderen trans Frauen wider. So galt es zum Beispiel als „wahnsinnig“, die trans Gewichtheberin Laurel Hubbard in den Olympischen Spielen antreten zu lassen; Caitlin Jenner wurde für ihr Coming-out als „krank und gestört“ abgestempelt. Letztes Jahr besuchte die trans Comedienne Jen Ives die Konferenz der Anti-Trans-Organisation LGB Alliance, wo sie als „psychisch kranker Perversling“ bezeichnet wurde. 

Obwohl eine trans Identität keine psychische Krankheit ist, sorgt der gesellschaftliche Umgang mit trans Personen oft dafür, dass deren Psyche leidet.

Natürlich ist es nichts Neues, dass die Gesellschaft Frauen als psychisch krank verurteilt. Jahrhundertelang wurden sie beispielsweise von Ärzt:innen mit „weiblicher Hysterie“ diagnostiziert. Dabei sollten wir Betroffene von geistigen Erkrankungen natürlich nicht beschämen – und tatsächlich gilt das auch für viele trans Menschen.
Die Diagnose der Genderdysphorie (die nicht alle trans Menschen erleben) ist keine psychische Krankheit, sondern ein Begriff, der das klinische Unwohlsein Betroffener damit beschreibt, wie weit ihr Gender und ihr bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht auseinandergehen. Nochmal: Genderdysphorie ist keine psychische Krankheit – und dennoch haben viele trans Personen Schwierigkeiten mit ihrer psychischen Gesundheit.
Warum, sollte klar sein: Die ständige Diskriminierung, Gewalt und Stigmatisierung ihrer Identität sorgen dafür, dass viele trans Menschen in schlechterer mentaler Verfassung sind als cis Menschen. Trans Personen haben beispielsweise eine neunmal so große Wahrscheinlichkeit als cis Menschen, einen Suizid zu versuchen; sie erleben mit viermal so großer Wahrscheinlichkeit Depressionen, mit dreimal so großer Wahrscheinlichkeit eine Angststörung, neigen deutlich häufiger zum Drogen- oder Alkoholmissbrauch als Bewältigungsmechanismus und entwickeln ebenfalls wahrscheinlicher eine Essstörung. Eine Studie von diesem Jahr ergab, dass nicht-binäre Menschen die schlechteste psychische Verfassung aller Gender haben. Mehr als jeder zweite nicht-binäre Mensch leidet klinisch nachweisbar unter einer schlechten mentalen Gesundheit.
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Oft ließe sich die geistige Gesundheit von trans und nicht-binären Menschen allein schon dadurch verbessern, indem man ihnen den Zugang zu Ressourcen und Unterstützung erleichtern würde. Eine gesicherte medizinische Versorgung, ein fester, gut bezahlter Job und eine bezahlbare Wohnung allein können die geistige Gesundheit eines Menschen schon radikal verbessern. Fakt ist aber, dass trans Menschen in all diesen Bereichen auch heute noch benachteiligt und diskriminiert werden. 
Dabei gibt es Studien dazu, dass sich gender-angleichende Medizin – inklusive Therapie, Hormonbehandlung, Operationen und Sprachtherapie – positiv auf die Psyche auswirkt. Das bestätigte auch eine Stanford-Studie von diesem Jahr, die ergab, dass trans Menschen, die freiwillig Hormone einnehmen, in besserer psychischer Verfassung sind als jene, die gerne Hormone einnehmen würden, aber keine bekommen. Die Forschenden schlussfolgerten, dass trans Teenager mit Zugang zur Hormontherapie im Erwachsenenalter seltener suizidale Gedanken, Drogenmissbrauchprobleme oder starke psychische Erkrankungen entwickeln. Trans Menschen kann die Transition – wie schon Lia Thomas sagte – also zum Glück verhelfen.
Viele trans und nicht-binäre Menschen wissen das natürlich schon. Anstatt sich von ihrer Genderdysphorie definieren zu lassen, erschaffen immer mehr trans Künstler:innen und Schriftsteller:innen Werke zu ihrer Gendereuphorie, dem Glücksgefühl, sich mit diesem oder jenem Gender endlich so richtig wohl zu fühlen. Das entsteht zum Beispiel, wenn jemand ihnen gegenüber die richtigen Pronomen verwendet, wenn sie sich einen neuen Namen überlegen, wenn sie zum ersten Mal bestimmte Klamotten tragen oder zum ersten Mal nach einer brustangleichenden Operation schwimmen gehen. 
Genderangleichende Medizin für all diejenigen verfügbar zu machen, die sie sich wünschen – ob trans oder cis oder irgendwo dazwischen –, wäre ein erster Schritt, um den Mythos abzuschaffen, wir seien psychisch krank. Und das gilt auch für materielle Bedingungen, wie leichtere Jobchancen für trans Menschen.  
In dieser Zukunft, in der wir unser Testosteron in der Drogerie bekommen und alle ein Dach über dem Kopf und genug Essen im Bauch haben, hören wir dann vielleicht auch damit auf, eine trans Identität anhand der individuellen Genderdysphorie und schlechten mentalen Gesundheit zu messen. In dieser Zukunft werden trans Menschen vielleicht endlich anhand ihres trans Glücks definiert.
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