Triggerwarnung: Der folgende Artikel enthält Beschreibungen von sexuellem Missbrauch.
#TimesUp, #MeToo, I May Destroy You, The Morning Show, die New-Yorker-Kurzgeschichte „Cat Person“: In den letzten Jahren haben all diese Storys differenziertere Debatten über sexuelles Fehlverhalten und Einverständnis, über Privilegien und Machtgefälle losgetreten. Zu diesem wichtigen Diskurs gesellt sich jetzt auch die neue Netflix-Miniserie Anatomie eines Skandals. Produziert vom Team hinter Big Little Lies und mit einer hochkarätigen britischen Besetzung aus Sienna Miller, Michelle Dockery und Rupert Friend konzentriert sich die sechsteilige Serie auf einen sexuellen Skandal in der britischen Politik-Elite. In vielerlei Hinsicht verfehlt sie ihr Ziel, stellt aber doch ein paar augenöffnende Fragen.
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„Und wie ist das mit der Familie Whitehouse?“, fragt ein Vater seinen jungen Sohn – ganz offensichtlich eine Routine-Frage. „Da, wo wir sind, ist immer oben!“, antwortet der Junge enthusiastisch. Der finstere Unterton lässt sich nicht leugnen: Die Vorstellung, dass jedes noch so schlimme Fehlverhalten, jeder noch so dramatische Skandal, durch den richtigen Familiennamen direkt wieder ausgebügelt werden könnte, ist erschreckend.
James Whitehouse (Rupert Friend) hat allem Anschein nach das perfekte Leben: Er ist ein prominenter britischer Politiker, der beste Kumpel des Premierministers Tom Southern (Geoffrey Streatfeild) und glücklich mit seiner Freundin aus Uni-Tagen verheiratet. Sophie (Sienna Miller) und er haben zwei niedliche Kinder und leben gemeinsam mit ihnen in einem hübschen Haus in der Downing Street. So weit, so schön – doch kracht plötzlich ein Skandal in sein beschauliches Leben, als seine fünfmonatige Affäre mit einer jüngeren Kollegin Olivia (Naomi Scott) ans Licht kommt und Schlagzeilen macht. Als weitere schmutzige Details bekannt werden – Sex im Parlament-Aufzug? –, fällt es James’ Frau Sophie immer schwerer, die Zähne zusammenzubeißen, trotz seiner Beteuerungen, die Affäre habe ihm gar nichts bedeutet. Uns als Zuschauer:innen beschleicht dabei immer mehr das Gefühl, hier könne noch mehr dahinterstecken – zurecht.
Es kommt, wie es kommen muss: Olivia beschuldigt James der Vergewaltigung, und der Fall landet vor Gericht. Die knallharte Staatsanwältin Kate Woodcraft (Michelle Dockery) setzt alles daran, James zur Rechenschaft zu ziehen. Und genau hier lauert das erste große Problem der Serie, basierend auf Sarah Vaughans gleichnamigem Bestseller-Roman über ihre Erfahrungen als politische Korrespondentin: Es ist nicht direkt klar, wer hier eigentlich der:die Böse ist und eine Strafe verdient. Viel zu lange – vermutlich, um uns weiter „mitraten“ zu lassen (absolut unangebrachterweise in einer Geschichte über sexuellen Missbrauch) – wird uns vorenthalten, welche von beiden Seiten eigentlich die Wahrheit sagt. Stattdessen erzählen Olivia und James den Geschworenen ihre jeweils eigene Story, während Sophie mit verzerrter Miene zusieht. Als es für beide Parteien schließlich in den Zeugenstand geht, bekommen wir den Abend der Tat noch einmal aus beiden Perspektiven präsentiert. Aus Olivias Sicht war es natürlich eine Vergewaltigung; wir sehen, wie sie James von sich stößt, bevor er sie beißt und ihre Klamotten zerreißt. Diese Szene ist verstörend – aber weniger verstörend als die darauffolgende Darstellung derselben Szene aus James’ Perspektive. Aus seiner Sicht hat Olivia ihn verführt; sie habe unbedingt mit ihm schlafen wollen. Das ist eine verständnisvolle Anschauung, die wirklich niemand gebraucht hat. Die Serie beschäftigt sich zwar mit James’ Privilegien als weißer Mann, erklärt ihn aber nie deutlich zum Bösewicht oder auch nur zu einem schlechten Menschen. Olivias Perspektive wird daraufhin mehr zum Nebengedanken – ein Schicksal, das viele Opfer sexuellen Missbrauchs nur zu gut kennen dürften.
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Dann wäre da noch die übermäßige Stilisierung und „Ästhetik“ der Serie. In einigen albernen Szenen sehen wir, wie James und Sophie schlechte Nachrichten bekommen, daraufhin brutal zurückgerissen werden und auf dem Asphalt landen, als habe sie der Einschlag dieser Nachrichten körperlich getroffen. Diese Szenen stören und lenken ab, und ein paar absurde Plottwists entfernen die Serie immer weiter von der Realität.
Keine Frage: Anatomie eines Skandals fühlt sich absolut zeitgemäß an, weil es uns eine alternative Realität präsentiert, in der Politiker:innen tatsächlich für ihr Fehlverhalten und ihre Korruption bestraft werden könnten. Die Serie wirft ein ehrliches Licht darauf, wie das Rechtssystem mit sexuellem Einverständnis umgeht – insbesondere mit dessen „Grauzone“, sprich: mit der sexuellen Gewalt, die zwischen den juristischen Definitionen von „Vergewaltigung“ und „keine Vergewaltigung“ liegt. Schließlich setzt die Serie dazu doch ein klares Statement – doch lässt dieses eben ganze sechs Episoden auf sich warten.
Anatomie eines Skandals ist zum Streamen auf Netflix verfügbar.
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