Zuallererst muss ich hier einmal festhalten, dass meine Eltern und ich ein elterliches Verhältnis haben. Wir sind weder beste Freunde noch uns vollkommen fremd, seit 26 Jahren kümmern sie sich mit elterlicher Fürsorge um mich, geben mir Ratschläge, unterstützen mich, wo sie nur können, fordern mich und sorgen sich um mich. Ich würde sagen, dass ich die besten Eltern auf der Welt habe und ich bin ihnen dankbar, wieviel sie mir ermöglicht haben – Auslandsreisen, das Studium, Gitarrenunterricht – und was sie mir mitgegeben haben – ein mutiger und empathischer Mensch zu sein, beispielsweise.
Ich sehe meine Eltern etwa alle zwei Monate, wenn ich vom Studium aus ein wenig Luft habe und über das Wochenende nach Hause fahren kann, worauf ich mich eigentlich immer sehr freue. Im letzten halben Jahr sah das allerdings anders aus, da hatte ich bereits im Zug ein mulmiges Gefühl im Magen, wenn er sich mit rasender Geschwindigkeit meinem Heimatort näherte. Denn seit einem halben Jahr gibt es nur ein Thema am elterlichen Esstisch: Die Bundestagswahlen.
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Ich bin nicht sonderlich interessiert an Politik, „normal” für jemanden in meinem Alter, die gebildet ist, aber etwas anderes studiert, würde ich behaupten. Für die Bundestagswahlen interessiere ich mich allerdings doch, habe mir die Wahlprogramme angeschaut, dazu Gedanken gemacht und auch in meinem Freundeskreis viel darüber diskutiert. Ich bin ganz gut informiert, was da so abgeht und was leider nicht abgeht in der Politik – und genau das ist das Problem.
Meine Eltern wählen nämlich anders als ich. Sie konservativ, ich die Grünen. Ich kann nicht verstehen, wieso sie ständig die CDU verteidigen, sie halten mich für naiv und weltfremd, dass ich die Grünen wähle. Ein Konflikt, der seit einem halben Jahr im Raum steht, weil ich an diesem einem Sonntagmorgen am Frühstückstisch so dumm – ja, im Nachhinein war es dumm – war, eine politische Diskussion mit meinem Eltern anzufangen.
Nach diesem einen Morgen kam das Thema immer wieder auf und es endete jedes Mal im Streit. Weder sie noch ich wollten von unseren Standpunkten abweichen und ich hätte jedes Mal heulen können, als ich wieder im Zug zurück zu meiner Unistadt saß. Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn man seine eigenen Eltern immer respektiert und wertgeschätzt hat, die heile, unantastbare Fassade der elterlichen Perfektion allerdings bröckelt, weil man partout nicht verstehen kann, wie gebildete Erwachsene sich in politischer Hinsicht von eigenen Ängsten, falsch interpretierten Medienberichten und sich in die falsche Richtung hochschaukelnden erhitzten Diskussionen im Freundeskreis so in die Irre leiten lassen können.
Und es ist ebenso schrecklich, wenn man die Enttäuschung in ihren Augen sieht. Weil sie denken, man sei mit 26 Jahren doch immer noch ein kleines, naives Kind, das von Politik keine Ahnung hat und von der Welt schon gar nicht. Dass man nicht intelligent genug sei, sich die Dinge so zu erschließen, wie sie – ihrer Meinung nach – wirklich sind und dementsprechend das Kreuz im Wahllokal an die – ihrer Meinung nach – richtige Stelle zu setzen.
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Seit dem ersten Sonntagmorgen und den darauffolgenden, unzähligen Streitgesprächen am Esstisch bin ich für meine Eltern eine Enttäuschung und sie für mich. Nicht generell, sondern lediglich, was die Bundestagswahl dieses Jahr betrifft. Das perfekte Bild von ihnen, das ich 26 Jahre lang in meinem Kopf trug, ist dennoch auf Dauer angekratzt, weil sich in mir durch die politische Diskrepanz andere Fragen auftaten, die weitläufiger sind als das Thema der Politik. Und sicherlich nicht am 24. September, wenn gewählt wurde, gegessen sein wird.
Irgendwann saß ich wieder im Zug Richtung Heimat und das Gefühl in mir wurde so beklemmend, dass ich es kaum noch aushielt. Ich wollte mich nicht mit meinen Eltern streiten, ich wollte nicht enttäuscht von ihnen sein und ich wollte keine Enttäuschung für sie sein. Ich hatte Angst, dass unsere Unstimmigkeiten in der Politik dazu führen würden, dass wir uns voneinander entfremden. Denn ehrlicherweise war es die vergangenen Wochen genau so gewesen: distanziert und unterkühlt.
Also beschloss ich, sie anzulügen. An diesem Wochenende kam ich nach Hause und als das Thema erneut auf die Bundestagswahlen fiel, winkte ich einfach lässig ab und sagte, ich hätte mir nochmal Gedanken gemacht und würde jetzt auch die CDU/CSU wählen. Ich weiß noch genau, dass meine Mutter die Suppenkelle beiseite legte und mein Vater aufhörte, das Fleisch in der Pfanne umzurühren. In ihren Augen: Überraschung – und, zu meinem Leidwesen, sogar Stolz. Zwei Mal wurde noch nachgehakt, woher mein Sinneswandel kam, was ich immer recht schnell mit Floskeln abwimmelte, sie hätten ja Recht gehabt, ich hätte mich nicht richtig informiert und ich sei ja noch jung und müsse viel lernen. Danach war das Thema gegessen. Ein für alle Mal.
Auch wenn ich meine politische Integrität in diesem Moment verloren habe, habe ich bis heute nicht bereut, dass ich meine Eltern seit Monaten anlüge, wen ich am Sonntag bei den Bundestagswahlen wählen werde. Weil es mir wichtiger ist, meinen Eltern nahe zu sein, als meinen Standpunkt ihnen gegenüber klar machen zu müssen, dass ich politisch anderer Meinung bin als sie. Für mich ist das Leben dadurch einfacher, das Verhältnis zu ihnen besser und ich freier. Außerdem bin ich jetzt in einem Alter, in dem meine Eltern nicht mehr alles über mich wissen müssen. Ich bin schließlich kein kleines, naives Kind mehr.
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